Zielkonflikte in der Arbeitssicherheit

Wer sich mit Themen der Arbeitssicherheit beschäftigt, trifft immer wieder auf Situationen, die ohne Kompromisse offenbar gar nicht bewältigt werden können. Diese Situationen entstehen aus teils mehr, teils weniger offensichtlichen Zielkonflikten. Braucht es also tatsächlich Kompromisse?

Arbeitssicherheit
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Es brennt. Alle müssen raus, aber keiner darf rein. Bloss die Feuerwehr, die muss rein. Wer rausgeht, soll keine Daten und Waren entwenden können. Und sogar beim Löschen ist Vorsicht geboten – was, wenn man dadurch einen jahrhundertealten Schatz zerstört? Es gibt in der Sicherheit einige solcher Zielkonflikte. Deshalb müssen Sicherheitsbeauftragte auch immer pragmatisch denken und vorgehen.

Einbruchschutz vs. Fluchtwege und Notausgänge

Ein klassisches Beispiel für solche Zielkonflikte sind die Bereiche Einbruchschutz und Fluchtwege. Ein Fluchtweg soll stets ungehindert in einen sicheren Bereich führen und den Menschen im Notfall das Leben retten. Solche Notfälle gibt es glücklicherweise eher selten. In sehr vielen Betrieben werden Fluchtwege deshalb als Zwischenlager für Brandlasten missbraucht und sind versperrt, wenn sie gebraucht würden. Die Notausgänge, die von innen nach aussen und für die Feuerwehr als Rettungsweg auch umgekehrt frei begehbar sein müssen, sind durch geparkte Fahrzeuge blockiert oder werden häufig sogar verschlossen.

Denn die Gefahr von und die Angst vor einem Einbruch ist allgegenwärtig. Wer bereits einmal von einem Einbruch betroffen war, nimmt es dann noch genauer. In detailgetreuer Aufarbeitung des Ereignisses werden unter anderem auch die Fenster mit massiven Eisengittern versehen. Dadurch ändert sich jedoch das Gesamtkonzept. Denn wenn flüchtende Menschen versperrte oder durch starke Rauchentwicklung abgeschnittene Fluchtwege vorfinden, versuchen sie, über die Fenster aus dem Gebäude zu gelangen – in diesen Fällen leider erfolglos.

Zutrittskontrolle vs. Intervention

Selbstverständlich braucht es für sensible Firmenbereiche eine Zutrittskontrolle. Unwillkommene Besucherinnen und Besucher haben hier keinen Zutritt. Die Feuerwehr oder der Rettungsdienst sind in einem Notfall jedoch sehr willkommen. Also müssen auch diese Firmenbereiche für eine Intervention zugänglich sein. Doch ist die Sicherheit dann noch immer gegeben? Gut gesicherte Haustüren, Fenstergitter oder Sicherheitsglas können gefährlich sein, vor allem in Kombination mit einem nicht mit Fachleuten abgesprochenen Konzept. Ein schneller ­Zutritt ohne Schlüssel wird erheblich ­erschwert. Deshalb sollten auch Schlüsselrohre für die Interventionskräfte installiert werden, damit der Zugang gewährleistet werden kann. Und natürlich müssen die Interventionskräfte diese Schlüsselrohre kennen, sie müssen also instruiert werden.

Evakuation vs. Diebstahlschutz

Fragen ergeben sich auch zu einer Evakuierung des Gebäudes: Wer darf und soll diese auslösen? Die betroffenen Menschen in Sicherheit zu bringen, hat natürlich absolute Priorität. Also wäre es sinnvoll, wenn jedermann den Evakuationsalarm auslösen kann, der einen Vorfall erkennt. Ist es aber immer zwingend, das Gebäude zu evakuieren, oder könnte dies gar missbräuchlich geschehen, um mit gestohlenen Daten oder Waren ungehindert und unerkannt aus dem Gebäude zu gelangen? Was hat nun also mehr Gewicht, die ­Sicherheit der Mitarbeitenden und der Gäste oder der Diebstahlschutz?

Arbeitssicherheit vs. Investitionen

Besonders in der Arbeitssicherheit sind die finanziellen Mittel häufig ein Thema. Das Fehlen von solchen oder ganz einfach die Unverhältnismässigkeiten, welche sich unweigerlich hie und da ergeben, dürfen dennoch nicht umgangen werden. Selbstverständlich ist es unverhältnis­mässig, eine Hubarbeitsbühne anzuschaffen, um zweimal im Jahr die Birne der einen Lampe auswechseln zu können. Natürlich ist es nicht verhältnismässig, einen Stapler zu kaufen, um jedes zweite Jahr eine Prospektlieferung annehmen zu können.

In vielen Fällen bietet sich aber nach einer genauen Betrachtung der Prozesse und einer konkreten Planung sogar die Möglichkeit, viele finanzielle Mittel einzusparen und damit für andere Dinge bereitzustellen. Oft kann eine höhere ­Effizienz erreicht werden, auch mit konkreter Kommunikation. Der Lieferant der Prospekte kann nämlich darüber informiert werden, welche Ausrüstung vorhanden ist oder wie die Prospekte anzuliefern sind, damit ihr Entladen keine Gefahr darstellt. Und es gibt Arbeitsbühnen übrigens auch zur Miete. Selbst wenn die Organisation solcher Dinge unter Zeitdruck oft untergeht, ist sie sehr sinnvoll. Natürlich braucht es im Umgang mit Arbeitsbühnen auch eine explizite Schulung und Einweisung, was die Problem­lösung weiter in die Länge ziehen kann.

Ergonomie vs. Brandschutz

In manchen Unternehmen verändern sich die Konzepte und dadurch die Personenflüsse und die Arbeitsorganisation bei ­einem Besitzerwechsel. Häufig geschieht dies schon mit dem Einzug des ersten Nutzers in einen Neubau. Das Gebäude ist schlicht nicht für die Nutzung gebaut, für die es dann gebraucht wird. Notausgänge und Fluchtwege entsprechen nicht mehr dem ursprünglichen Gedanken, Brandschutztüren werden mit Holzkeilen offen gehalten, damit die Mitarbeitenden ungehindert passieren können.

Doch im Brandfall muss eine Brandschutztüre geschlossen sein. Es gibt Rückhaltemagnete für Brandschutztüren, die das ermög­lichen und die Tür tagsüber zwar offen halten, bei einem Feuer aber automatisch schliessen. Diese Rückhaltemagnete müssen jedoch an die Brandmeldean­lage angeschlossen werden, damit das klappt – und diese Brandmeldeanlage muss wiederum gemäss Herstellerangaben regelmässig kontrolliert werden, meistens jährlich.

Brandschutz vs. Denkmalschutz

Bricht beispielsweise in einem Museum ein Feuer aus, kann man nicht per se ­massiv mit Löschflüssigkeiten hantieren. Nehmen wir die Stiftsbibliothek des Klosters St. Gallen: In einem Brandfall ist es dort ganz wichtig, die gelagerten Werte zu schützen. Mit einer Sprinkleranlage kann man Feuer erfolgreich löschen, doch sind die Bücher am Ende vielleicht genauso zerstört, wie wenn sie verbrannt wären. Was ist nun zu priorisieren?

Innovation vs. Sicherheits- und Rettungskonzept

Nehmen wir einmal das Beispiel Gastronomie: Immer häufiger müssen sich Gastbetriebe ganz besondere Angebote ausdenken, um Gäste anzulocken. Gastbetriebe mit einer besonderen Klientel aus bestimmten Regionen der Welt setzen – innovativ, wie sie sind – oft auch in der Küche auf Köche, Hilfskräfte und Menüs aus diesen Regionen. Das bedeutet häufig ganz andere Kulturen und auch ein völlig anderes Sicherheitsdenken. Eine einfache Schulung bringt dann noch längst nicht den gewünschten Effekt. Man muss also noch mehr kontrollieren und nachbessern, was viel Zeit und auch Geld kostet.

Eine andere innovative Idee ist die Erlebnisgastronomie. Es gibt heute Übernachtungsmöglichkeiten in Iglus, im Stroh oder auf dem Berg, häufig weit weg von Infrastrukturen, nur zu Fuss oder per Seilbahn erreichbar. Das macht ein Rettungskonzept ziemlich schwierig. Erleidet dort jemand einen Herzinfarkt und läuft die Seilbahn nicht, weil ein Sturm aufzog, dauert es sehr lange, bis der Rettungsdienst vor Ort ist – viel zu lange. Es bräuchte also Rettungssani­täter oder zumindest ausgebildete Ersthelfer vor Ort.

Fazit

Sicherheit kennt eigentlich keine Kompromisse. Wenn man die Sicherheit an ­einer Stelle vernachlässigt, um Kompromisse einzugehen, ist man grundsätzlich bereit, Menschenleben zu gefährden oder einen monetären Schaden für das Unternehmen in Kauf zu nehmen. Dennoch sind aufgrund der formulierten Zielkonflikte nur pragmatische Lösungen richtig erfolgreich. An erster Stelle muss immer die Unversehrtheit des Menschen stehen. Einrichtungen, die besondere Aufmerksamkeit erfordern, dürfen nicht nur von einem Fachmann aus einem Gebiet beurteilt werden.

Sie erfordern Gesamtkonzepte, die von Fachleuten aus den Bereichen Arbeitssicherheit, Brandschutz, Notfallmanagement, Einbruchschutz, Zutrittskontrolle und Intervention erarbeitet werden. Die Gefährdungen müssen erkannt und analysiert werden. Zudem müssen zielführende Massnahmen, zum Beispiel nach dem Prinzip STOP (Substitution, technische, organisatorische und persönliche Massnahmen) umgesetzt werden. Aber wie? Der Schulterschluss mit den Be­hörden ist oft und ganz besonders bei ­grösseren Infrastrukturen unerlässlich. Und es gilt die Erkenntnis: Mit einer professionellen Planung lassen sich (Folge-)Kosten von Ereignissen, Unfällen oder gar Todesfällen verhindern. Sicherheit heisst Leben retten, Tragödien verhindern und den wirtschaftlichen Erfolg ­sichern.

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