Sichere Individuallösungen
Der Brandschutz in der Schweiz ist grundsätzlich präskriptiv unterwegs. Bewilligt wird, was zertifiziert ist. Das verhindert den Einsatz innovativer, neuer Systemlösungen. Experimentelle Nachweise für Individuallösungen wären eigentlich erlaubt und könnten Planern und Bauherren ein grosses Potenzial erschliessen. Doch die gängige Praxis nutzt sie kaum. Es ist Zeit für neue Freiräume.
Das Ziel von Brandschutzmassnahmen ist klar: Sie haben sicherzustellen, dass die vorgegebenen Schutzziele in Bezug auf Personen, Tiere und Sachen eingehalten werden. Der beste Weg dahin ist jedoch keineswegs eindeutig. Bisher ist der Brandschutz in der Schweiz grundsätzlich präskriptiv unterwegs, das heisst, geplant und bewilligt wird nach den in den Brandschutzvorschriften der Vereinigung Kantonaler Feuerversicherungen (VKF) vorgegebenen Anwendungsrichtlinien. Auf der Ebene von Bauteilen und Bauprodukten bedeutet dies, dass in der Regel nur zertifizierte Produkte und Systeme zum Einsatz kommen. Dieser Ansatz ist bei Standardbauten sehr effizient und hat sich bewährt. Stellen jedoch Architektur oder Nutzung besondere Anforderungen oder sollen innovative Systeme zum Einsatz kommen, kann die Orientierung an Produktstandards zu einem Korsett werden, das die beste und sicherste Lösung verhindert.
Bessere Lösungen wären «erlaubt»
Dabei lassen die Schweizer Brandschutzvorschriften durchaus ein Türchen offen: Die VKF-Richtlinie 27-15 «Nachweisverfahren im Brandschutz» erlaubt individuelle Lösungen auch mit nicht zertifizierten Produkten, wenn nachgewiesen werden kann, dass die Schutzziele der Norm erfüllt werden und eine ganzheitliche Betrachtung zugrunde liegt. Doch dieser Freiraum wird heute sowohl von Planer- als auch von Behördenseite praktisch nicht genutzt – möglicherweise, weil er die Verantwortung zu den Beteiligten verlagert. Denn: Wie kann der Nachweis erbracht werden, dass eine spezielle Lösung, die nicht als standardisiertes Bauteil brandschutztechnisch klassiert und zertifiziert ist, die verlangten Schutzziele erfüllt? Hier sind in den letzten Jahren Erkenntnisse aus den Materialwissenschaften in das Bauingenieurwesen eingeflossen und haben dazu geführt, dass wissenschaftlich basierte experimentelle Nachweisverfahren zum Brandverhalten von Bauteilen entwickelt wurden. Sie könnten individuelle Lösungen im Brandschutz ermöglichen, die das gewünschte Schutzniveau nachweislich erreichen.
Wie reagiert ein System im Brandfall?
Ein Brand in einem Gebäude ist ein ausserordentliches Ereignis, das alle baulichen Elemente vielseitig belastet. Die hohen Temperaturen verändern auf der Mikroebene die physikalischen und chemischen Eigenschaften der Baustoffe und – in der Folge – auf der Makroebene das Tragverhalten und die Brandabschnitts-bildung. Da zunehmend Systemlösungen eingesetzt werden, kommt es zu einem schwer vorhersagbaren Zusammenwirken unterschiedlicher Subsysteme und Materialien. Wie interagieren zum Beispiel in einer Trockenbauwand die porösen Gipsplatten, die mineralischen Dämmplatten, die dünnwandigen Stahlprofile und die steifen Verschraubungen? Erst wenn Materialverhalten und Strukturverhalten gemeinsam betrachtet werden, können belastbare Aussagen gemacht werden. Deshalb ist ein experimenteller Ansatz in verschiedenen Grössenmassstäben, vom Mikro- bis zum Systemmassstab, erforderlich, um die Feuerwiderstandsdauer des Gesamtsystems nachweisen zu können, also sein Leistungsverhalten im Brandfall in Bezug auf Tragfähigkeit, Raumabschluss und Wärmedämmung.
Vom Mikro- bis zum Systemmassstab
Bei experimentellen Brandschutznachweisen kommt dem Meso-Massstab eine besondere Bedeutung zu (siehe Abb. 1): Dabei werden die charakteristischen Systemkomponenten im Meso-Massstab nachgebaut und der Brandeinwirkung ausgesetzt. So kann das Zusammenwirken von Material- und Strukturverhalten erprobt werden, ohne dass das Gesamtsystem im Massstab 1:1 aufwendig aufgebaut und auf seinen Feuerwiderstand geprüft werden muss. Derartige Nachweise können Erstaunliches zutage fördern und interessante Rückschlüsse für den Brandschutz zulassen – wie die folgenden Beispiele zeigen.
Trotz Tauglichkeit nicht bewilligungsfähig
Glasbausteinwände werden in Gebäuden als attraktives Gestaltungselement immer häufiger auch dort eingesetzt, wo Brandschutzanforderungen zu erfüllen sind. Feuerwiderstandsprüfungen haben bestätigt, dass sich Glasbausteinwände im Brandfall gleich verhalten wie typische Massivbauwände. Dennoch können Öffnungen in Glasbausteinwänden nicht mit Brandschutzabschlüssen verschlossen werden, die für Massivbauwände zertifiziert sind. Grund: Glasbausteinwände werden in europäischen Prüf- und Produktnormen schlicht nicht behandelt. Brandversuche und Feuerwiderstandsprüfungen mit den Glasbausteinen alleine sowie in Kombination mit den Brandschutzabschlüssen haben jedoch eindeutig bewiesen, dass das System auch im Brandfall Wärmedämmung und Raumabschluss ausreichend sicherstellt. Eine rein formale Hürde verhindert also, dass die Kombination einer Glasbausteinwand mit einem Brandschutzabschluss bewilligungsfähig ist.
Zertifizierte Produkte – aber ungewisser Brandschutz
Auch der umgekehrte Fall kommt vor: Um eine bewilligungsfähige Lösung anbieten zu können, werden unterschiedlichste zertifizierte Produkte kombiniert. Dadurch entsteht ein neues «System», dessen Verhalten im Brandfall jedoch keineswegs bekannt ist. Derartige «Lösungen» sind nicht selten auf Baustellen anzutreffen. Im Fallbeispiel (siehe Abb. 2) wurde der Brandschutzabschluss durch die Durchführung von Leerrohren geschwächt. Man hätte das Problem brandschutztechnisch sehr einfach durch eine lokale Anpassung des Brandschutzabschlusses selbst lösen können. Formal gefordert waren aber zertifizierte Produkte für Wand, Decke, Rahmenverbreiterung und Abschottung. Entstanden ist eine Eigenkonstruktion, die die zertifizierten Produkte in einem Massstab verbindet, der ausserhalb der Prüfnorm liegt – und damit unwägbare Risiken birgt.
Ziel: Performance-basierter Brandschutz
Experimentelle Nachweise bedeuten für Planer und Behörde mehr Aufwand als der Einsatz zertifizierter Produkte. Zugleich eröffnen sie ein grosses Potenzial für individuelle Lösungen, die für die Bauherrschaft und die Nutzer hohen ästhetischen oder praktischen Mehrwert schaffen. Der (gut bezifferbare) Mehraufwand ist dann rasch amortisiert.
Was die aufgeführten Beispiele aber auch zeigen: Selbst wer den Richtlinien und Normen strikt folgt, ist nicht zwingend auf der «sicheren» Seite, denn auch die Standards haben «blinde Flecken». Deshalb gehört es zur Fachkompetenz der Brandschutzfachleute, diese kritischen Aspekte der Zertifizierung zu kennen. So können beispielsweise laut Norm Rahmenhölzer in Brandschutzabschlüssen durch solche mit einer höheren Rohdichte ersetzt werden, und zwar ohne zusätzliche Feuerwiderstandsprüfung. Dies ist bewilligungsfähig im vollen Wissen, dass das Brandverhalten eines Holzes keineswegs nur von der Rohdichte abhängt und durch den Austausch der Holzart die Feuerwiderstandsdauer des Brandschutzabschlusses verkürzt werden kann. Es gilt deshalb beides: Normen sollten nachweislich sichere Individuallösungen nicht verhindern. Zugleich sollten aber auch normenkonforme Standardlösungen kritisch überprüft und hinterfragt werden. Ziel wäre ein Brandschutz, der sich am realen Leistungsverhalten der Baumaterialien und Systeme im Brandfall orientiert. Die SIA-Kommission «Brandschutz» arbeitet derzeit an einer Norm, die den Rahmen für diesen Performance-basierten Ansatz im Brandschutz stecken wird. Es ist zu hoffen, dass damit neue Lösungen sowohl in den Brandschutzkonzepten als auch bei den Bauteilen möglich werden.
Abb. 2: Der Brandschutzabschluss wurde durch die Durchführung von Leerrohren geschwächt. Mit zertifizierten Produkten wurde eine Eigenkonstruktion erstellt, deren Wirksamkeit in diesem Massstab aber keineswegs sichergestellt ist.
Autor
Dr. Erich Hugi
Projektleiter, Basler & Hofmann