Atomunfall-Schutzübung ohne die zu schützende Bevölkerung?!

Erneut lässt das Bundesamt für Bevölkerungsschutz (BABS) jene aussen vor, die es bei einem Atomunfall schützen soll: Die Masse der Menschen fehlt auch bei der diesjährigen sogenannten ‹Gesamt›notfallübung (GNU), die das BABS beim Atomkraftwerk Mühleberg gerade durchführt.

Die Gesamt-Atomunfall-Schutzübung beim AKW Mühleberg findet gerade vom 26. bis 28. September statt. Aber die zu schützende Bevölkerung bleibt aussen vor?! © Depositphotos/SergeyNivens

Weitgehend unter sich bleiben die Führungsorgane auch, wenn sie diesmal den «Übergang in die Bewältigung der (…) Unfallfolgen in den ersten Tagen nach dem Unfall» üben werden. Das ist gemäss der aktuellen Pressemeldung  der Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz (AefU) absurd. Ausserdem haben die Behörden den momentan beübten Atomunfall ihren Möglichkeiten angepasst. Sie wollen das beschönigte Unfallszenario als Basis für den Bevölkerungsschutz auch in der revidierten Notfallschutzverordnung festschreiben.

575 000 Menschen evakuieren – Bern ausgeschlossen?

Die GNUs finden zweijährlich statt. Auch diesmal üben die Notfallstäbe den Atomunfall für sich allein, quasi als Trockenübung ohne die Bevölkerung. Im Umkreis des Atomkraftwerks (AKW) Mühleberg leben über 575 000 Menschen. Sie alle wären von einem Atomunfall direkt betroffen. Sie bekommen aber von der Übung ihrer angeblichen Beschützer kaum etwas mit. Auch Bern liegt in unmittelbarer Reichweite einer austretenden radioaktiven Wolke. Es gibt keine Konzepte, wie die Stadtbevölkerung vorsorglich zu evakuieren wäre und auch keine dazu, wer sie wie nachträglich durch das verstrahlte Gebiet aus ihren Kellern holen könnte.

Was beim AKW Mühleberg jetzt geübt wird will der Bundesrat zukünftig in der ‹Verordnung über den Notfallschutz in der Umgebung von Kernanlagen› (Notfallschutzverordnung, NFSV) festschreiben. Die Vernehmlassung endete just einen Tag vor der jetzigen Gesamtnotfallübung 2017. Darin schreibt der Bundesrat, zur Evakuierung der Notfallschutzzone 1 (unmittelbarer Umkreis ums AKW) würden sechs Stunden reichen, bzw. 12 Stunden für die Evakuierung der erweiterten Zone 2. Doch entsprechende Studien über die Machbarkeit fehlen. Simulationen für das AKW Gösgen sind gemäss Autoren einer ETH-Studie explizit nicht auf die Region Mühleberg übertragbar. Trotzdem wird beim AKW Mühleberg nach diesem Schema geübt. Ob die Zeit also im Ernstfall ausreichen würde, damit sich die Menschen in Sicherheit bringen könnten, ist völlig offen.

Menschen mit Mobilitätsbehinderung einfach zurücklassen?

Die Räumung von Spitälern, Pflegeheimen und Gefängnissen blieben in der ETH-Studie zum Mindestzeitbedarf für grossräumige Evakuierungen ausgeklammert. Es ist die bisher einzige Studie, die sich mit solchen Zeitberechnungen für das Gebiet um das AKW Gösgen befasste. Die Evakuierung solcher Einrichtungen würde «deutlich länger als 30 Stunden dauern». Die Evakuierung von Behindertenheime und Schulen bleibt genauso unklar wie der selbständig wohnende aber auf Hilfe (z.B. Spitex) angewiesene Menschen. Es sei «zu entscheiden, ob auf eine vorsorgliche Evakuierung verzichtet wird, falls ein gewisser Teil der Bevölkerung nicht rechtzeitig das Gebiet verlassen kann, oder ob der Schutz des erfolgreich evakuierten Bevölkerungsanteils höher zu gewichten» sei, schreibt das BABS in seinem Evakuierungskonzept. Das erinnert an ein Kriegsszenario: Wer nicht selbständig davonkommt, hat Pech gehabt und wird sich selber überlassen. Voraussetzung für die Betriebsbewilligung für AKWs ist aber ein funktionierender Notfallschutz für alle.

Der Atomunfall muss sich den Möglichkeiten der Behörden anpassen

Fragwürdig sind bereits die grundsätzlichen Annahmen der Behörden über den zu übenden Atomunfall Ihr Szenario ‹A4 bei mittlerer Wetterlage› (kurz: A4) setzt 10 Mal weniger Radioaktivität frei als in Fukushima bzw. 100 Mal weniger als in Tschernobyl. Die Behörden haben A4 als Kompromiss gewählt, weil u.a.  Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) das bisherige A3-Szenario beibehalten wollte, mehrere Kantone aber das Szenario A5 (Fukushima) bzw. A6 (Tschernobyl) als Grundlage verlangten. Das ausgedealte Referenzszenario hat somit wenig mit der Realität zu tun, auf die sich der Schutz der Menschen bei einem schweren Unfall in den AKWs Beznau, Gösgen, Mühleberg oder Leibstadt ausrichten muss. Beim simplen Kompromiss durften die AKW-Betreiber prominent mitwirken. Die betroffene Zivilbevölkerung hingegen hatte dazu nichts zu sagen. Dieses beschönigende Unfallszenario A4 will der Bundesrat nun auch in seine neue Notfallschutzverordnung aufnehmen.

Die Radioaktivität tritt erst aus, wenn der Notfallschutz bereit ist…

Beim Unfallszenario A4 tritt die radioaktive Wolke frühestens sechs Stunden nach bemerktem Unfall aus und nicht bereits nach vier oder gar zwei Stunden, wie es in den schwereren Szenarien A5 und A6 zu erwarten ist. Warum? Bis der Schweizer Bevölkerungsschutz einsatzfähig ist, benötigt er «eine Vorphase von sechs Stunden», so das ENSI 2014. Man wählte also ein Umfallszenario, bei dem der Notfallschutz nicht zum vornherein hoffnungslos erscheint. «Die Behörden biegen den Atomunfall so zurecht, dass er in ihr Konzept passt. Sie stellen einmal mehr die Interessen der AKW-Betreiber über den Schutz der Bevölkerung vor der unbeherrschbaren Atomenergie», kommentiert Dr. med. Peter Kälin, Präsident der Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz (AefU). «Damit verletzen die Behörden die Vorgaben des Kernenergiegesetzes, das einen funktionierenden Notfallschutz als Voraussetzungen für eine AKW-Betriebsbewilligung verlangt», stellt Kälin klar.

Bahnt sich in einem Schweizer AKW ein schwerer Unfall an, drängt die Zeit. Die Notfallschutzverordnung aber überlässt es den AKW-Betreibern, einen Unfall zu erkennen und sein Ausmass einzuschätzen. Sie sollen mitteilen, was sie stets als unmöglich von sich weisen. Nach welchen Kriterien die Einschätzung im Detail geschieht, ist geheim.

Gesamte Pressemitteilung der Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz (AefU) 

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