Deeskalation bei verbalen Entgleisungen und Drohungen

Das Kommunikationsmodell zeigt, worauf man beim Erfassen von verbalen Übergriffen achten sollte. Es sind mehr Elemente, als man denkt, und man sollte sie alle im Hinterkopf haben.

verbalen Übergriffen
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Die Kenntnisse des Umfelds stehen in keinem Lehrbuch, sondern sie werden allein durch die Berufserfahrung vor Ort erworben (z.B. im Spital, an Grossanlässen, am Bahnhof …). Dementsprechend sind neue Angestellte sorgfältig einzuarbeiten und man muss sie mit den häufigsten Szenarien vertraut machen.

Zweitens muss man sich dessen bewusst sein, dass sehr viel «negative», aber gleichwohl wichtige Informationen bei jenen Mitarbeitenden deponiert werden, zu denen der Zugang am leichtesten ist (auch wenn sie nicht viel Macht haben). Die Ansprechperson der Drohung oder der Beschimpfung ist oft nicht die Zielperson. Selbstverständlich müssen alle Mitarbeitenden darüber informiert sein und Weiterbildung geniessen, damit sie sicherheitsrelevante Informationen weiterleiten. Sicherheitsmässig gibt es keine Hierarchie – alle Arbeitskollegen/-innen sind sehr wichtig und tragen eine grosse Verantwortung (z.B. auch und ge­rade das Reinigungsteam). Droher/innen wenden sich oft an den Empfang oder ans Sekretariat, um Führungspersonen einzuschüchtern. Drohbriefe inklusive ihr Umschlag (Spurensicherung) müssen aufbewahrt werden für den Fall, dass es eskaliert. Wer einen Drohbrief oder eine Erpressung entdeckt, sollte sofort Handschuhe anziehen und jedes einzelne Blatt in ein Sichtmäppchen tun, dann diese fotokopieren und alles an den Sicherheitsdienst weiterleiten. Bei Drohungen am Telefon sollte man auf Lautsprecher stellen, damit andere Mitarbeitende im Büro als Zeugen mithören. Danach sollte man alles als Aktennotiz so wortgetreu wie nur möglich aufschreiben und in Anführungszeichen setzen, damit es juristisch niet- und nagelfest ist. Das kann durchaus eine handschriftliche Notiz sein, sie muss nur lesbar sein und der Form genügen (Ort, Datum, Zeit, Unterschrift). Zum Beispiel: Die uns bekannte Kundin K. beschwerte sich über den Verkäufer V., er habe sie angelogen. Sie sagte heute am 20.7.2022 um 10.30 Uhr an der Kasse 3: «Dä huere Siech chunnt dra.» Unterschrift Z., Kassierer Morgenschicht.

Deeskalation bei verbalen Entgleisungen und Drohungen

Drittens ist der Sendekanal zu berücksichtigen. Als Grundregel gilt: Je weiter weg die Täterschaft physisch ist, desto weniger unmittelbare Gefahr geht von ihr aus. Das gilt aber nur für den Moment. Anonyme Botschaften auf den sozialen Medien werden von Leuten verfasst, die zu feige sind, um zu ihrer Kritik zu stehen. Bedrohlicher wird es, wenn eine Täterschaft die Zielperson privat auskundschaftet und bei ihr zu Hause auftaucht.

Sodann ist die Art der unangemessenen Mitteilung zu berücksichtigen. Beschimpfungen und Beleidigungen dienen dazu, Dampf abzulassen und ein lädiertes Selbstwertgefühl des/der Täters/-in wieder aufzubauen. Sie sind nicht das Gleiche wie Drohungen. Emotionen bei Beschwerden sind auch nicht unbedingt schon ein Übergriff, es kommt immer auf die genauen Umstände an.

Interventionen zur Beruhigung der Lage und zur Informationsgewinnung​

Jede Intervention hat zwei Funktionen: Sie soll immer deeskalieren und sie soll – wenn möglich – Informationen sammeln.

Bei verärgerter Kundschaft beispielsweise benötigt man weitere Infos. Der Unmut könnte je nachdem berechtigt sein und der Betrieb würde sich einen schlechten Dienst erweisen, wenn er die Betroffenen abwimmelt. Dazu kann man fragen: «Wann hat diese Verärgerung angefangen? Was ist passiert?» Die Wann-Frage ist zielführender als die Warum-Frage, weil sie sich auf konkrete Ereignisse und Wahrnehmungen bezieht. Das «Warum» verleitet zum weiteren Schimpfen, denn es schliesst auch vage Vermutungen der Kundschaft mit ein. Das empfehlenswerte Buch von Haden Elgin handelt mehrere Formen von Verbalattacken ab und wie man darauf reagieren kann (S. 102–118).

Wenn Leute emotional erregt sind, sollte man ihnen auf keinen Fall mit «Bitte, beruhigen Sie sich» oder «Bleiben wir sachlich» begegnen. Diese Sätze wirken überheblich und heizen den Konflikt an (Haas 2014). Zwischen den Zeilen bedeuten sie nämlich, der Kunde sei zu Unrecht emotional, während die Fachperson drüberstünde und objektiv sei. Vereinfacht gesagt: «Ich bin hier der Chef und Sie spinnen», niemand möchte so behandelt werden.

Eine gute Antwort ist so formuliert, dass sie offen ist für die Möglichkeit, dass die schimpfende Kundschaft eventuell ein berechtigtes Anliegen hat. Richtig ist beispielsweise: «Ich sehe, dass Sie verärgert sind über die Maskenpflicht.» Weitere Antworten, die den Ball flach halten sind: «Viele Leute denken wie Sie, aber wir dürfen trotzdem nicht …» Nach den Erklärungen der Kundschaft kann man weiterfahren mit: «Ich sehe Ihren Ärger, es würde mir vielleicht nicht anders gehen an Ihrer Stelle, aber versuchen Sie, auch uns zu verstehen, wir sind auch nur ­Menschen.» Wenn jemand kurz vor dem Explodieren steht, kann man ihn herunterholen, indem man seine Selbstbeherrschung lobt (solange noch keine Gegenstände geflogen sind): «Ich merke, dass Sie sich grosse Mühe geben, sich zu beherrschen trotz der sehr unangenehmen Situation, und ich weiss das sehr zu schätzen.»

Schliesslich muss eine temporäre Lösung angestrebt werden – je nach Berechtigung des Anliegens. Wenn es berechtigt ist, aber man keine Zeit hat, sollte man eine positive Formulierung wählen, damit sich die Person nicht abgewertet fühlt: «Wir nehmen Ihr Anliegen sehr ernst und Sie bekommen deshalb nächste Woche einen Termin beim Kundendienst, wo sie es ausführlicher schildern können.» Bei Problemen, welche in einem allgemeinen Sinn berechtigt wären (oder es theoretisch sein könnten), aber nicht vom zuständigen Betrieb gelöst werden können, ist eine zweiteilige Antwort gut. «Ja, Ihr Anliegen ist gesellschaftlich (oder ggf. in ihrer Situation) verständlich, aber wir haben hier nicht die Möglichkeit, es jetzt umzusetzen. Betriebe haben sehr viel weniger Macht, als man so meint.» Bei hartnäckigem Insistieren auf unrealistische Anliegen soll man nicht zögern, die zuständigen Ansprechpartner verständnisvoll zu nennen, z.B.: «Da müssen Sie sich eigentlich an die politische Partei Ihrer Wahl wenden, wir können beim besten Willen das Gesetz nicht ändern», oder bei Geisteskranken, die mit bizarren Ideen kommen: «Das ist jenseits meiner Kompetenz und es geht mehr in den Gesundheitsbereich, ich finde, das sollten Sie mit Ihrer Hausärztin besprechen.»

Bei mündlichen Drohungen empfiehlt es sich, in aller Gelassenheit möglichst viele weitere Informationen einzuholen. Beispielsweise: «Mhüh …?», und fragender Gesichtsausdruck oder: «Das habe ich jetzt nicht ganz verstanden …», oder: «Was möchten Sie mir damit sagen?», oder: «An was denken Sie mit ‹nächstens klöpft es hier›?» Natürlich kommen dann oft Ausweichantworten, aber auch diese lassen Rückschlüsse zu, zum Beispiel, ob es sich um eine vage Zukunft handelt oder ob körperliche Gewalt wirklich unmittelbar bevorsteht (mehr dazu in Haas 2004 und 2009).

Deeskalation bei verbalen Entgleisungen und Drohungen
Porträt der Steinzeitfrau von Egolzwil/Luzern, eine Zeichnung, angefertigt von Leo Erni 1948 anhand des Gipsmodells (durch Koller 1935, S. 857 f.). Mit herzlichem Dank an die Kantonsarchäologie Luzern.

Selbstverständlich muss man Beleidigungen und Diskriminierungen nicht widerspruchslos über sich ergehen lassen oder die Opfer im Regen stehen lassen. Es gibt geeignete Antworten, die den Ball flach halten. Symbolisch gesehen, sind sie wie Aikido, man macht ­einen Schritt zur Seite und lässt den Angriff ins Leere laufen, z.B.: «Es ist so, dass viele Leute Frauen für wenig kompetent halten, aber es erstaunt mich, dass Sie so denken.» (Oder: «Aber ich teile diese Ansicht nicht.») Bei Jungen hilft manchmal auch eine Prise Selbstironie. Ich selber habe als Therapeutin im Gefängnis auf solche Dinge schon geantwortet: «Stimmt, wir Frauen haben ja auch ein kleineres Hirn …» Dann setzt i.d.R. auch bei den Angesprochenen ein Schmunzeln ein und eine gewisse Selbstreflexion kommt in Gang. Ein grosses Thema sind derzeit rassistische Übergriffe. Was tun, wenn man betroffen ist? Dazu gibt es wieder mehrere Varianten. Einerseits kann man einen selbstbewussten Umgang mit abwerteten Bezeichnungen pflegen, damit sie ihre alte Bedeutung verlieren und positiv besetzt werden. So wurde beispielsweise das frühere Schimpfwort «schwul» entmachtet. Andererseits kann man historische Vorbilder nennen, beispielsweise sind people of color bereits seit der Steinzeit in der Schweiz – d.h., «reine Weisse» gibt es hier nicht. Das beweist das Skelett einer ca. 30-jährigen Frau, das 1901 in Egolzwil LU gefunden wurde, aber erst später mit den Schädel­massen anthropologisch zugeordnet werden konnte (1924) – es gleicht afrikanischen und melanesischen Schädeln. Man schätzte damals sein Alter auf ca. 6000 Jahre, es wurde aber noch nie mit modernen Methoden untersucht. Unter dem Einfluss der Nazizeit wurde es ab 1934 am Anthropologenkongress in London international totgeschwiegen und die hiesige Geschichtswissenschaft hat sich bis heute nicht darum gekümmert, das zu ändern (Haas 2020). Bei der aufdringlichen Frage «Woher kommen Sie eigentlich?» oder dem N-Wort darf man sich zurücklehnen und sich auf die Ur­geschichte der Schweiz berufen. Eine «weis­se Rasse» mit mehr «Heimat-Anspruch» gibt es hier nicht. Wissenschaftlich gibt es überhaupt keine «Rassen» (Jenaer Erklärung), es gibt nur äusserliche Merkmale.

Lebenshaltung und Zivilcourage

Dies waren einige Vorschläge für die Praxis, allerdings eignet sich nicht jeder Mustersatz für alle Situationen gleichermassen. Welche Intervention am Schluss adäquat und konkret hilfreich ist, muss jede und jeder aufgrund seiner Intuition im Moment entscheiden. Hilfreich für das eigene psychische Befinden ist es übrigens, wenn man solche Episoden nicht als «Störung» oder gar als «Trauma» abbucht, sondern als eine sportliche Herausforderung. Es sind Gelegenheiten, um noch mehr soziale Kompetenz zu erwerben. Man lernt es immer besser und gewinnt immer mehr ruhige und kompetente Zivilcourage. Später wird übrigens das Unangenehme zum Abenteuer, zur Lebenserfahrung oder man kann sogar über die Geschichten lachen. Der Kon­trast macht das Leben spannend und lässt einen die entspannten und schönen Momente erst richtig genies­sen.

Weiterführende Literatur

  • De Becker, G. (2017). Vertraue deiner Angst: Wie unsere Intuition uns vor Gewalt schützt. München: mvg Verlag.
  • Haas, H. (2014). Das Tier in mir. Der Umgang mit Gewalt- und Bedrohungs­situationen aus neuro-psychologischer Sicht. Kriminalistik, 68(1), 47-53 (www.zora.uzh.ch/id/eprint/91010)
  • Haas, H. (2009). Verlaufsanalysen von häuslicher Gewalt. In: Bundesminis­terium für Justiz (Hrsg.), Lebensform Familie – Realität & Rechtsordnung. Österreichische RichterInnenwoche Laa an der Thaya, 26. bis 30. Mai 2008. Schriftenreihe des BJ, Band 141: 121 (www.zora.uzh.ch/id/eprint/24915)
  • Haas, H. (2004). Gefährlichkeitseinschätzung von Drohungen. Kriminalistik, 58(12), 791-799 (www.zora.uzh.ch/id/eprint/97196)
  • Haden Elgin, S. (2000). The Gentle Art of Verbal Self-Defense at Work. New York: Prentice Hall Press.
  • Jenaer Erklärung (2019). Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung. (kostenlos verfügbar unter: bit.ly/3dcu4Ih)

 

Sonstige Quellen

  • Editor (Oct. 1934) Man. Journal of the Royal Anthropological Institute of Great Britain and Ireland (bit.ly/3QBLXxR)
  • Haas, H. (2020). Is there a skeleton in the closet of the Julius Klaus Foundation? Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für Familienforschung, 47: 221-264. (gratis herunterladen: bit.ly/3BxIVGN)
  • Koller, R. (1935). Plastische Rekonstruktion der Physiognomie vorzeitlicher Menschen. Anthropos 30(5/6), 857-858.
  • Neue Zürcher Zeitung vom 14.8.1934 über den Anthropologenkongress in London im August 1934.
  • Schlaginhaufen, O. (1924). «Die Ergebnisse der Untersuchungen am anthropologischen Material aus dem Wauwilersee». Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaft Luzern, Band 9 (bit.ly/3L41jdu)
  • Schlaginhaufen, O. (1925). Die menschlichen Skelettreste aus der Steinzeit des Wauwilersees (Luzern) und ihre Stellung zu anderen anthropologischen Funden aus der Steinzeit. Erlenbach-Zürich, München und Leipzig, E. Rentsch.
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