Freiheit gegen Sicherheit

Die Freiheit ist ein hohes Gut. In welchem Mass wir ihre Einschränkung zugunsten der Sicherheit akzeptieren, hängt von vielen Faktoren ab. Ein Überblick.

Freiheit gegen Sicherheit
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Freiheit und Sicherheit sind zwei grundlegende Bedürfnisse des Menschen, die sich auf den ersten Blick gegenseitig ausschlies­sen. Sicherheit entsteht meist durch gemeinschaftliche Regeln, welche die individuelle Freiheit begrenzen. «Menschen können aber auch freiwillig sicherheitsorientiert handeln», sagt Andrea Uhr, Verkehrspsychologin und wissenschaft­liche Mitarbeiterin bei der BFU. Nur: Wann schränken Menschen ihre Freiheit eigenverantwortlich ein? Und wo liegen die Grenzen der Selbstbestimmung, wenn es darum geht, Unfälle mit schweren und tödlichen Folgen zu vermeiden?

«Wir alle möchten uneingeschränkt und selbstbestimmt unseren Alltag gestalten. Darob vergessen wir gern, wie schnell wir uns überfordern», sagt Stefan Siegrist, Direktor der BFU. «Im Grunde sind wir ge­fordert, sobald wir schneller fahren als gehen können, die Sichtverhältnisse schlecht sind oder der Boden glitschig.» Die meisten der 40’000 schweren Freizeitunfälle passieren, weil menschliche Fähigkeiten nun mal begrenzt sind. Bei 96 Prozent aller Unfälle ist der Mensch die Ursache des Unfalls. Die Psychologie stellt deswegen einen Kernpunkt der Arbeit der BFU dar.

Sensibilisierung als wichtige Vorstufe zur Regel

Nehmen wir das Beispiel Fahrradhelm. In der Schweiz gilt für Fahrräder ohne Hilfsmotor keine Helmtragepflicht. Sensibilisierungskampagnen haben dafür gesorgt, dass sich dennoch knapp die Hälfte der Velofahrenden mit einem Helm schützt. Bei den Kindern liegt die Helmtragquote sogar höher: Drei von vier Kindern tragen einen. Damit ist laut BFU der richtige Zeitpunkt für eine Helmpflicht bei Kindern gekommen. Dieser lässt sich an Zahlen ablesen.

«Ein neues Gesetz ist konsensfähig, wenn 40 Prozent der Bevölkerung es freiwillig umsetzen und es bei 60 Prozent der Leute Akzeptanz findet», sagt Sie­grist. Diese Zahlen ermittelt die BFU mittels jährlicher Bevölkerungsbefragungen.

Die Sensibilisierung für freiwillig sicherheitsorientiertes Verhalten wirkt sich entscheidend auf die spätere Akzeptanz von Regeln aus. Ohne Sensibilisierung kann es schnell zu einer Abwehrreaktion kommen. «Sie entsteht, wenn Menschen sich ihrer Handlungs- und Entscheidungsfreiheit beraubt fühlen», erklärt Andrea Uhr.

«Das sieht man aktuell bei der Maskenpflicht, die in gewissen Teilen der Gesellschaft Widerstand hervorruft.» Den Grund dafür sieht Stefan Sie­grist in zwei Punkten: «Zu Beginn der Coronapandemie mussten die Behörden ohne fundierte wissenschaftliche Basis und in hohem Tempo ins Blaue hinaus Entscheide fällen.» Es entstand das kollektive Gefühl, die Eigenverantwortung sei eingeschränkt.

Im Idealfall verläuft die Etablierung einer neuen Sicherheitsmassnahme aufbauend auf Daten und Erfahrungen. Es braucht verlässliches Wissen zum Risiko und zur Wirksamkeit von Massnahmen. Aus Erfahrung nimmt dann die Sensibilisierung für ein neues Thema rund drei Jahre in Anspruch. Dann empfinden Menschen neue Regeln weniger als Einschränkung ihrer Freiheit – sondern als sinnvollen Fortschritt.

Verschiedene Zielgruppen, unterschiedliche Argumente

Mithilfe fundierter Studien lassen sich Sensibilisierungskampagnen gezielt ausarbeiten. «Wenn die BFU von Risiken spricht, dann meinen wir nicht Verstauchungen oder Prellungen. Wir sprechen von Unfällen mit schweren gesundheitlichen oder sogar tödlichen Folgen», erklärt Siegrist. Mit der Angst zu argumentieren sei jedoch oft der falsche Ansatz. Schockkampagnen können sich unter Umständen kontraproduktiv auswirken, «vor allem, wenn sie keine einfache, wirksame Lösung des Problems mitliefern», ergänzt Andrea Uhr. Oft wird auch mit der falschen Konsequenz gedroht. Uhr nennt das Beispiel von schockierenden Anti-Raser-Kampagnen im englischen Sprachraum – die wenig Wirkung erzielen. «Einem jungen Mann den möglichen Tod vor Augen zu führen wirkt auf ihn unglaubwürdig. Ihn kann es nicht treffen. Er fühlt sich unverletzlich und denkt, er hat sein Auto im Griff.» Viel effektiver sei es, dieser Zielgruppe mögliche soziale oder finanzielle Konsequenzen aufzuzeigen. Also die richtige Bedrohung für die Zielgruppe zu eruieren und dazu eine Lösung zu liefern.

Dies war bei der Kampagne «Slow down, take it easy» zu beobachten. Ihre Aussage war: «Wenn du nicht rast, bist du cool.» Der BFU ist es gelungen, nicht als Spassbremse dazustehen, sondern die Lust am Rasen durch eine genauso starke Emotion zu ersetzen: das Geniessen.

Sichere Verhältnisse ergänzen sicherheitsorientiertes Verhalten

Gerade weil die Wahrnehmung der eigenen Fähigkeiten individuell geprägt ist, stösst die Selbstverantwortung oft an ihre Grenzen. Hier steht eine Anpassung der Verhältnisse im Vordergrund. Siegrist nennt ein Beispiel: «Bei den allermeisten Velounfällen im Kreisverkehr trifft es die Velofahrenden unverschuldet. Der Appell an die Autofahrenden, die Velos nicht länger zu übersehen, nützt wenig. Wir müssen Verkehrskreisel so nachbessern, dass sich das Tempo beim Einfahren auto­matisch reduziert.»

Akzeptanz für eine Massnahme entsteht, wenn die Sensibilisierung auf zwei Ebenen funktioniert. Erstens ist die Einschätzung der persönlichen Gefährdung relevant: Gehe ich überhaupt davon aus, dass es mich treffen kann? Zweitens spielen persönliche Hürden eine Rolle. Um beim Beispiel Fahrradhelm zu bleiben: Wie umständlich ist es, den Helm mitzuschleppen? Sehe ich damit uncool aus? Macht er meine Frisur kaputt? Empfinde ich ihn als unbequem oder wird mir da­runter zu heiss?

Zahlen und Fakten sind ein Grundpfeiler, die entscheidende Rolle spielt aber die Emotion. Siegrist: «Normalerweise braucht es drei bis vier fundierte Argumente, um jemanden von einer Massnahme zu überzeugen. Wenn aber die Emotion dazwischenfunkt, nützt kein Argument der Welt.»

Eine Gemeinschaft ohne Regeln gibt es nicht

In manchen Fällen kann auch der Zwang zur Freiwilligkeit führen. Andrea Uhr nennt als Stichwort den Sicherheitsgurt. Anfangs stiess die Gurtpflicht auf Widerstand. Die Bereitschaft, diese Einschränkung des persönlichen Fahrspasses anzufechten, war riesig. «Vierzig Jahre später fühlt es sich komisch an, wenn man während der Fahrt nicht angeschnallt ist.» Wenn man etwas tun muss, das man ­eigentlich nicht tun möchte, passe man seine Meinung oft im Nachhinein an, um sich nicht in einem ständigen kognitiven Konflikt zu befinden, so die Erklärung aus psychologischer Sicht.

Regeln sind aus unserem Alltag nicht wegzudenken. Der besondere Schutz für Kinder ist beispielsweise in der Bundesverfassung festgehalten. Allerdings wäre auch eine durch Regeln geformte Null-Risiko-Gesellschaft nicht erstrebenswert. Denn im Idealfall schliessen sich Freiheit und Sicherheit nicht aus. Sie ergänzen sich

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