Psychologische Einflüsse

Nach dem Aufbringen einer Schweissbahn war Stunden später die Dacheindeckung in Brand geraten. Offenbar war es versäumt worden, die Flächen nach Arbeitsschluss auf weiter schwelende Brandnester hin zu kontrollieren. Der Bauleiter wurde für schuldig befunden. Aber ist mit dem Schuldspruch wirklich alles geklärt?

Psychologische Einflüsse
Ein wirksames Sicherheitsklima ist ein Milieu, in dem Mitarbeitende aufeinander achtgeben. Bild: Depositphotos

Die Industrie 4.0 erfordert bei der Arbeitssicherheit eine ganzheitliche Herangehensweise. Sie erweitert notwendigerweise den Fokus der Prävention auf die menschlichen, das heisst die psychologischen Faktoren, die zu einem Arbeitsunfall führen können. Dabei spielen die Sicherheitskultur und das Sicherheitsklima eine entscheidende Rolle.

Sicherheitskultur und ­-klima

Die Sicherheitskultur bildet sich aus zwei Komponenten, den psychologischen sowie organisationalen. Sie widerspiegelt das allgemeine Interesse und Verständnis für die Prävention in einem Unternehmen insgesamt. Damit offenbart die Sicherheitskultur unter anderem, inwieweit die Überzeugung ausgeprägt ist, dass grundsätzlich jede Gefährdung präventiv beherrschbar ist. Nicht zuletzt weist sie aus, wie offen das Unternehmen für präventive Verbesserungen ist und die Beschäftigten bereit sind, daran mitzuwirken.

Aus der Sicherheitskultur leitet sich das im Team herrschende Sicherheitsklima ab. Es bildet das Milieu, in dem die Prävention zur Arbeitssicherheit stattfindet. Das Sicherheitsklima sollte dabei die Beachtung der menschlichen Faktoren besonders fördern. Psychologische sowie organisationale Risiken werden gezielt in die Prävention einbezogen. Wie wirkt sich das in der Praxis aus?

Sind sämtliche organisationale Belange wie Vorschriften und Anweisungen ordnungsgemäss eingehalten worden, funktionieren die Planungs- und Kon­trollstrukturen, kommt höhere Gewalt wie Regen, Blitz oder Sturm nicht infrage, was hat dann zum Personenunfall geführt? Lassen die Verantwortlichen bei ihren Analysen die psychischen Faktoren menschlichen Handelns ausser Acht, stehen sie vor einem unlösbaren Rätsel. Letztlich kommen sie schliesslich zu dem Ergebnis: menschliches Versagen. Damit wird der Fall dann als endgültig geklärt betrachtet und zu den Akten gelegt.

Aber Achtung! Falls die psychischen Ursachen im Dunkeln gelassen werden, wiederholt sich das menschlich Versagen früher oder später. Deshalb ist es unerlässlich zu fragen, was könnte alles zu einem sogenannten menschlichen Versagen geführt haben? Waren es:

  • Aufmerksamkeitssaussetzer
  • Wahrnehmungsfehler
  • Gedächtnislücken
  • Irrtümer
  • Wissensmängel
  • Bedienungsfehler
  • Konfliktstimmungen

Oft handelt es sich auch um psychische Wesenszüge wie Ängstlichkeit und Leichtsinn. Nicht zuletzt sind psychologisch wirkende organisationale Faktoren in Betracht zu ziehen.

Versagensangst führt zu Stress

Versagensangst ist die Angst, Fehler zu begehen. Sie tritt in vielen Lebensbereichen auf. Sie äussert als Nervosität, Mutlosigkeit oder Stress. Damit verbunden sind Schwierigkeiten, sich zu entspannen. Mit fatalen Auswirkungen auf Herz und Magen. Bei der Arbeit kann Versagensangst zu Fehlverhalten führen und mittelbar für Unfälle verantwortlich sein.

Schnell einsetzende Verärgerung oder übermässige Gereiztheit deuten bei einer Person auf eine vehemente Angst hin, zu versagen. Schlimmer noch, bei den Kollegen als Versager angesehen zu werden, verstärkt das Syndrom. Damit kann ein Einzelner die Arbeitsstimmung des gesamten Teams erheblich belasten. Die Befürchtung zu versagen, geht mitunter so weit, dass sich betroffene Personen häufiger krankmelden oder sogar kündigen.

Leiden Führungskräfte unter Versagensangst, werden sie unduldsamer gegenüber ihren Mitarbeitern. Sie erhöhen damit unnötigerweise den Leistungsdruck. Um dann z.B. Zeit zu sparen, stellen die Mitarbeiter die Prävention gegenüber den Gefährdungen hintan. Oft beobachtet: Um schneller fertig zu werden, wird bei hoch gelegenen Arbeitsplätzen die notwendige Absturzsicherung vernachlässigt.

Versagensängste sind weitverbreitet, werden aber oft nicht bemerkt. Leidet eine Person darunter, braucht sie trotzdem für ihre Funktion nicht ungeeignet zu sein. Denn Versagensängste sind nicht angeboren. Unternehmensführungen können betroffenen Mitarbeitern auf vielfältige Art und Weise helfen, ihre Versagensängste abzuschütteln. Ein psychologischer Supervisor weiss, wie das geht.

Die krankhafte Angst zu versagen, entsteht im Kopf. Sie ist eine Reaktion des Bewusstseins. Dort muss die Überwindung ansetzen. Eine kognitive Verhaltenstherapie beginnt damit, dem Leiden auf den Grund zu gehen. Sie identifiziert die angstauslösenden, irrationalen Gedanken. Aufgrund gesammelter Erkenntnisse darüber bewirkt sie z.B. mittels ­erlernter Selbstwahrnehmung, diese Schwäche zu überwinden.

Leichtsinn und Leichtfertigkeit sind Kopfsache

Ignoriert jemand eine für ihn erkennbare Gefährdung wissentlich, handelt er leichtsinnig. Seine Gründe dafür sind vielfältig. Nicht selten ist es eine Charaktereigenschaft, die zu unüberlegtem, riskantem Verhalten verleitet. Sie ist in der Psyche verankert. Dennoch lässt sich Leichtsinnigkeit durch Willenslenkung so weit beherrschen, dass sie nicht in Leichtfertigkeit ausartet.

Bei der Prävention sollte darauf geachtet werden, dass die Leichtsinnigkeit nicht in ihr Gegenteil, nämlich Ängstlichkeit, umschlägt. Das hätte fatale Folgen für eine vernünftige Risikobereitschaft, zeitnah notwendige Entscheidungen zu treffen.

Bei den Ursachen für einen Arbeitsunfall sollte keinesfalls vorschnell auf Leichtsinn plädiert werden. Selbst dann nicht, wenn es scheinbar deutliche Hinweise darauf gibt. Tatsächlich sind es vielleicht organisationale Unzulänglichkeiten beim Arbeitsablauf oder in der Managementstruktur. Werden sie kaschiert, wirken sie weiter.

Leichtsinn geschieht niemals vorsätzlich, wie etwa Sabotage. Unbewusst leiden Leichtsinnige unter einer kognitiven Verzerrung ihrer Wahrnehmung. Sie überschätzen ihre Fähigkeiten und ignorieren gleichzeitig die mit ihrem Handeln verbundenen Risiken.

Sind Leute mit dieser Eigenschaft für risikobehaftete Funktionen grundsätzlich ungeeignet? Das ist individuell sehr unterschiedlich. Beschäftigte verändern sich mit den Jahren nicht nur körperlich, auch ihre Persönlichkeit entwickelt sich. Eine Studie zeigt: Charakterzüge sind nicht so stabil wie oft angenommen. Etwa alle zehn Jahre verändert sich jeder mehr oder weniger deutlich erkennbar, wird oft vernünftiger. Diese Entwicklung lässt sich psychotherapeutisch fördern.

Ob der Leichtsinn einer Person individuell therapiert werden soll, muss das Management gemeinsam mit einem Psychotherapeuten entscheiden. Es kommt ausserdem auf den denkbar möglichen Schaden an, der infolge eines Leichtsinns eintreten kann. Handelt ein Kellner beim Geschirrabräumen leichtsinnig, indem er zu viel aufeinanderstapelt, zerbricht schlimmstenfalls Porzellan. Anders zu bewerten wäre das Lenken eines Autos mit Alkohol im Blut.

Die wirksamste Prävention gegenüber Leichtsinn ist ein Sicherheitsklima, in dessen Milieu die Mitarbeiter gegenseitig achtgeben, ohne es einander übel zu nehmen. Benutzt z.B. jemand während des Gehens sein Handy, sollte ein anderer ihn auf seine Gefährdung aufmerksam machen können, ohne als Wichtigtuer belächelt zu werden. Schliesslich enthalten auch Nebensächlichkeiten ein beachtliches Gefährdungspotenzial. Allen sollte es ins Bewusstsein geschrieben werden: Von einem Arbeitsunfall sind in irgendeiner Weise alle im Team betroffen.

Fazit

Arbeitsunfälle resultieren aus einem kollektiven Versagen bei der Prävention. Bereits im Vorfeld wurden entscheidende Massnahmen versäumt oder während des Arbeitsvorgangs folgenreiche Fehler begangen.

Schuldzuweisungen klären die juristische Haftung und Verantwortung. Die primären Ursachen jedoch bleiben davon unberührt. Schon gar nicht hilft es weiter, die Verantwortung einer einzelnen Person anzulasten.

Bei allen Arbeitsunfällen sind Menschen stets Verursacher und Opfer zugleich. Ihr Handeln wird von ihrem Bewusstsein bestimmt. Dort sollte die Prävention ansetzen.

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