Rauchfreie Fluchtwege auf hundert Metern Höhe
Die Überbauung im Berner Quartier Tscharnergut war Ende der Fünfzigerjahre das grösste Wohnbauprojekt in der Schweiz. Die Vorschriften machten jedoch nicht nur einen neuen Lift für die Feuerwehr erforderlich. Seit einem halben Jahr sind in drei der vier bewohnten zwanzigstöckigen Hochbauten sogenannte Rauchschutz-Druckanlagen (RDA) installiert.
Etwa fünfzehn Tramminuten vom Berner Hauptbahnhof im städtischen Bezirk Bethlehem befindet sich bei Bümpliz-Oberbottigen das Tscharnergutquartier. Das ruhige Wohngebiet ist seit 1958 baulich erschlossen und war zu dieser Zeit eine der grössten Schweizer Hochbauprojektlandschaften – der Ausblick über Bümplitz und die vielen Grünquartiere aus dem obersten Stock der zwanziggeschossigen Hochhäuser ist eindrücklich. Von den zwei Aufzügen der zwei Treppenhäuser eines Hochhauses aus bedienen je ein kleiner Lift und ein Feuerwehrlift 40 bis 60 Wohnungen. Heute würde man nicht mehr so bauen: Vorschriftsgemäss würde ein Neubau aus einem Liftvorplatz oder einer Schleuse und einem separaten Treppenhaus bestehen. Dennoch hat man in brandschutztechnischer Hinsicht versucht, aus dem, was ursprünglich einmal in Beton gefasst war, noch den bestmöglichen Schutz herauszuholen.
Mit der Sanierung der Liftanlage der drei Hochhäuser einher ging an der Waldmannstrasse auch die Auflage bezüglich einer Installation einer neuen Rauchschutz-Druckanlage (RDA), die Ende März 2021 von der Bauherrschaft abgenommen wurde. Rauchschutz-Druckanlagen werden seit Jahrzehnten gebaut. Seither wurden die Anlagen technisch wie auch normativ kontinuierlich verbessert. Verfügten die ersten Anlagen noch über mechanische Druckklappen, werden moderne Anlagen über die Drehzahl der Ventilatoren geregelt. Sobald von der Brandmeldezentrale Rauch detektiert wird, löst die Rauchschutz-Druckanlage vollautomatisch aus mithilfe der entsprechenden Schnittstelle zwischen den zwei Anlagen. Dies sorgt dafür, dass geöffnete Brandschutztüren geschlossen werden und über eine Zuluftklappe im Untergeschoss ein Ventilator gestartet wird. Das Ziel einer RDA besteht darin, bei einem Brandfall in Fluchtwegen wie in einem Treppenhaus einen geregelten Überdruck aufrechtzuerhalten. Von dem grossen Ventilator über die Lamellenlüftung, über Motoren, den Frequenzumformer bis hin zu den Steuerungen und Sensoren wurden sämtliche Komponenten von Minimax als RDA-Generalunternehmer installiert.
Da eine brandschutzmässige Ertüchtigung der bestehenden Gebäude aufgrund der örtlichen Begebenheiten und des Denkmalschutzes nicht einfach nach Norm umgesetzt werden kann, war eine eingehende Abklärung und Definition der Anforderungen zwischen Behörden, Bauherrschaft und Errichter vorab zwingend notwendig. Eine gute Kommunikation zwischen Bauherrschaft, Behörden, Architekten und Brandschutzplaner ist in einem solchen Projekt erforderlich.
«Die Umsetzung der Sanierung aller drei Hochhäuser erfolgte über einen im Detail etappierten Bauablauf», betont Matti Ragaz von Hitz Architekten AG.
Die Gebäudeversicherung hat sich damit quasi selber auferlegt, die Hochhäuser periodisch auf die Brandsicherheit zu überprüfen. Schliesslich gelangte im Juli 2018 von der Gebäudeversicherung ein Schreiben mit Verbesserungsvorschlägen an die Eigentümerschaft. Solche Eingriffe und Installationen innerhalb von acht Monaten durchzuführen sei eine echte Herausforderung, betont Brandschutzfachmann Urs Käser.
Als Brandschutzplaner wurde man sehr früh mit dem Eigentümer und dem Architekten ins Boot geholt. Um mehr Planungsspielraum zu erhalten, sei es erforderlich gewesen, eine Kategorie Sofortmassnahmen und eine Reihe an Sekundärmassnahmen zu definieren. Die Sofortmassnahmen waren hinsichtlich der Sicherheitsbeleuchtung und Nottüren mit Panikfunktion entsprechend auf den Personenschutz ausgerichtet, so der Brandschutzfachmann.
«Normalerweise würden die Liftanlagen direkt in die Schleuse und nicht ins Treppenhaus führen», so Käser. Bei der Lösungsfindung sei dem Brandschutzplaner die Anordnung entgegengekommen. So wollte man die Frischluftzufuhr in den Liftschacht befördern, respektive vom Liftschacht ins Treppenhaus und vom Treppenhaus ins Freie. Geht eine Türe auf, resultiert eine gerichtete Strömung, damit der Rauch von der Wohnung nicht ins Treppenhaus «drücken» kann.
Weniger Drucksensoren im Altbau erforderlich
«Vereinfacht gesagt, saugen wir mit dem Ventilator, welcher im Untergeschoss eingebaut wurde, Luft in den Liftschacht und erzeugen einen Überdruck von etwa 30 bis 50 Pascal», erklärt Beat Christen, Geschäftsführer der Minimax, Gnädingers Betriebs AG. Bei der Inbetriebnahme der Anlage werden über die Drucksensoren Differenzdrücke zur Regelung des Ventilators erzeugt. Bei einem Neubau mit Liftvorplätzen wäre es komplexer gewesen, so Christen. In diesem Fall würden auf jeder Etage entsprechende Drucksensoren eingebaut. Im Fall der Tscharnergut-Hochhäuser wird im unteren sowie im oberen Geschoss mit einem Differenzdrucksensor direkt in die Atmosphäre gemessen. Die von aussen in den Ventilator gezogene Frischluft gelangt dabei in den Liftschacht und wird homogen in das ganze Treppenhaus verteilt.
Die Einlasslamellen in der bodengeschossigen Fassade, an welcher sich der grosse Ventilator befindet, werden motorisch geöffnet. Vom Liftschacht wird die Frischluft aus dem Überdruck schliesslich über alle die Etagen hinweg verteilt. Die Luft wird dadurch quasi in das Treppenhaus «geblasen».
«Würde man mit dem grossen Ventilator lediglich von unten Luft in das Treppenhaus hineinpressen, resultierten im unteren Bereich eventuell um die 100 Pascal und zuoberst noch um die 20 Pascal», so Christen. Ziel sei es jedoch, in allen Etagen denselben Luftdruck zu erzeugen und aufrechtzuerhalten. Dies auch vor dem Hintergrund der Norm, dass bei der Wohnungstüre auf der Etage eine Luftströmung von mindestens 0,75 m/s erreicht werden muss, sofern ein Fenster in der Wohnung offen ist. Somit kann kein Rauch aus der Wohnung in das Treppenhaus gelangen.
Neue Türschliesssysteme
Innerhalb der Türen müssen zugunsten der RDA-Anlage sogenannte Freilauftürschliesser angebracht sein. Diese werden erst im Brandfall aktiv. Sobald ein Brand detektiert wird, drückt der Mechanismus die Türe zu. Falls jemand flüchtet und dabei vergisst, die Türe zu schliessen, geschehe dies von alleine. Brenne es beispielsweise in einer der Wohnungen und eine Türe werde geöffnet, starte die Anlage und erzeuge einen Druck von 30 bis 50 Pascal im Treppenhaus. Wenn die Wohnungstüre geöffnet werde und ein Fenster innerhalb der betroffenen Wohnung offen wäre, müsse eine gleichmässige Luftströmung aufrechterhalten werden – die Drehzahl des Ventilators fährt hoch. Knallt eine Türe zu, entsteht ein enormer Überdruck: Der Ventilator drosselt seine Drehzahl und wird aktiv gebremst. Das System dürfe hierbei maximal während dreier Sekunden bei einem Druck von beispielsweise über 50 Pascal verharren, um sich wieder einzupegeln, so Christen. Sobald der Sensor einen tieferen Druck, beispielsweise 50 Pascal, registriere, werde die Leistung wieder hochgefahren. Würde man dies nicht geschickt anstellen, bestünde ein ständiger Pendeleffekt zwischen hohen und tiefen Luftdrücken. Die Etagentüren würden zwar von alleine geschlossen, liessen sich jedoch über eine volle Öffnung und etwas mehr Kraft weiterhin normal öffnen. Die Druckkraft eines Kleinkindes von zehn Kilogramm dürfe jedoch gemäss der Norm nicht überschritten werden.
Vorsichtsmassnahmen
Vor dem Ventilator im Lüftungskanal sind zwei spezielle Kanalrauchmelder verbaut. Sollte im Aussenbereich beispielsweise ein Container brennen und somit Rauch angesaugt werden, schaltet sich die Anlage automatisch ab. Die gezielte Abführung der überschüssigen Luft oder von Rauchbildungen im Treppenhaus übernimmt der Abströmkanal mit zwei windunabhängigen Öffnungen in der obersten Etage. Neben dem grossen Luftabfuhrkasten können links und rechts die Treppenhausfenster geöffnet werden.
«Damit die vorliegende Anlage wie gewünscht funktionieren kann, war vorab ein hohes Mass an Bohr- und Fräsarbeiten notwendig, die mit viel Baulärm verbunden waren», so Ragaz.
Bei einer Sanierung, bei welcher neue Lifte wie auch eine RDA eingebaut wurden, konnten Unterbrüche der Lifte nicht vermieden werden. Bei einem Gebäude mit 20 Wohngeschossen und mindestens 40 Wohnungen pro Treppenhaus sei dies eine wahrliche Herausforderung gewesen, sagt der Architekt. Generell musste mindestens immer ein Aufzug funktionieren.
Seit dem 1.1.2020 unterstehen die Tscharnergut-Hochhäuser der Risikogruppe eins. Alle zwei Jahre ist laut dem Brandschutzbeauftragten ein Integraltest erforderlich. Dieser obliegt der Verantwortung der Eigentümer. Die Behörden würden laut dem Brandschutzfachmann in der Regel alle acht Jahre nach den Dokumenten fragen. Dann werden die Bewohnerinnen und Bewohner angeschrieben. Durch die integralen Tests mit der Brandmeldung und der Abnahme über den Brandschutzingenieur konnte immerhin «das Ganze schon einmal geübt werden», so Beat Christen von Minimax.
Dieser Fachartikel erschien in der gedruckten Ausgabe SicherheitsForum 3-2021.
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