Stresstest Coronavirus – was sagt die Krisenmanagerin?
Im Ernstfall zeigt sich, wie resilient ein Unternehmen ist. Welche Lehren sind aus dem Pandemiefall zu ziehen? Eine Notfall- und Krisenmanagerin im Gespräch.
Als Krisenmanagerin sind Sie mehr denn je gefragt. Wo drückt der Schuh bei den Unternehmen?
Almut Eger, Notfall- und Krisenmanagement, Geschäftsleitung 4m2s: Viele Unternehmen mussten erst lernen, wie sie in dieser Krisensituation handeln sollen. Ich nehme grosse Unsicherheit insbesondere bei Firmen wahr, die in ein Netz von Zulieferern und Abnehmern eingebunden sind, auch international.
Häufig fehlt in KMU das Know-how für die prioritär wichtigen Dinge zum Fortbestand des Unternehmens, das Business Continuity Management. Denn die Firmen wissen nicht, was sie wirklich schützen müssen. Diesbezüglich gilt es, folgende Fragen zu beantworten: Welches ist in der Krise die Erwartungshaltung der Kunden, Lieferanten und Mitarbeitenden, aber auch der Geldgeber? Welchen Service, welche Produkte, welche Dienstleistungen können und müssen wir im Ausnahmefall noch bieten? Solche Fragen muss sich jedes Unternehmen ganz bewusst stellen.
Beispielsweise muss ein Lieferant für Artikel des täglichen Bedarfs die Transporte flexibel anpassen: Welche Ware soll nun prioritär ausgeliefert werden? Welcher Abnehmer hat geöffnet und braucht zum Beispiel rasch neues Toilettenpapier, obwohl vorgestern erst geliefert wurde? Welcher Transporteur steht noch zur Verfügung? Welches Zentrallager kann noch angefahren werden?
Welche Firmen sind gut aufgestellt?
Unternehmen, die sich bereits im Vorfeld einer Krise mit der Thematik befasst haben, sind eindeutig besser gerüstet. Wer das Szenario «Welche Prozesse, Abläufe und Ressourcen brauchen wir im Ernstfall?» durchgespielt hat, weiss, wie handeln, denn er hat wichtige Hausaufgaben erledigt. Ich kenne auch Firmen, die aus der Pandemiesituation wirtschaftlich gestärkt hervorgehen werden. Und das hauptsächlich, weil sie sich im Vorfeld generell auf eine Krisensituation vorbereitet haben. Die Hausaufgaben sind gemacht, man kann die Unterlagen hervorholen und die ganze Angelegenheit wesentlich ruhiger angehen.
Gibt es eine Prioritätenliste, was zu tun ist?
Weit oben auf der Prioritätenliste ist beispielsweise das Team-Splitting. Wo immer möglich, werden redundante Teams organisiert, damit ständig eine Gruppe einsatzfähig ist. Diese Teams sollten sich physisch nicht mehr treffen. Und falls dies doch einmal der Fall ist, müssen in der Pandemiesituation sehr strenge Hygienemassnahmen eingehalten werden.
Zur Prioritätenliste gehören auch verschiedene Fragen zu den erforderlichen Leistungen. Ein Unternehmen, das beispielsweise wichtige Sicherheitstechnik installiert, muss sicherstellen, dass seine Servicetechniker die nötigen Ersatzteile haben und den Unterhalt beim Kunden aufrechterhalten können. Man denke nur an Kunden aus dem Bereich kritische Infrastrukturen. Da die Ersatzteile zum Teil aus einem zentralen Lager stammen und vielleicht aus dem Ausland eingeflogen werden müssen, kann es gut sein, dass die Lieferkette nicht mehr funktioniert. Das heisst, das Unternehmen muss im Krisenfall schnell ein Ad-hoc-Lager aufbauen, möglichst dezentralisiert. Wer solche Szenarien im Vorfeld durchgespielt hat, gewinnt im Ernstfall wichtige Zeit.
Ein anderes Thema ist die Verlagerung der Mitarbeitenden ins Home-Office: Habe ich mit dem Provider gesprochen, verfügt er überhaupt über genügend Bandbreite und wie sieht es mit der Cyber-Security aus, wenn alle von zu Hause aus aufs Firmennetzwerk zugreifen?
Solche Überlegungen gehören ins Business Continuity Management. Ein Unternehmen ist dann erst resilient, wenn es im Krisenfall relativ schnell reagieren kann.
Wo liegen die Unterschiede zwischen einem Produktions- und einem Dienstleistungsbetrieb?
Beim Produktionsbetrieb steht die Supply Chain stark im Vordergrund: Woher kriegen wir die zur Verarbeitung benötigten Materialien und wie können wir ausliefern? Wichtig ist aber auch die Beantwortung der Frage, welche Produkte im Pandemiefall überhaupt noch nachgefragt werden. Haben wir Rohstoffe bestellt, die wir momentan gar nicht benötigen? Beim produzierenden Betrieb ist es häufig nicht möglich, redundante Standorte zu betreiben, das wäre viel zu teuer. Deshalb ist es nun so wichtig, dass genügend Mitarbeiter und Material an diesem einen Standort, auch unter erschwerten Bedingungen, zur Verfügung stehen. In einem mir bekannten Firmenbeispiel läuft eine Initiative «kleine Notlager errichten», um produzierte Ware, die nicht ausgeliefert werden kann, zwischenzulagern. Das ist in diesem KMU betriebswirtschaftlich besser, als den Betrieb herunterzufahren.
Auch beim Dienstleistungsunternehmen stellt sich primär die Frage, in welcher Form in der momentanen Situation eine bestimmte Dienstleistung nötig ist. Zum Beispiel: Welche Dienstleistung soll im öffentlichen Raum erbracht werden? Bringt eine erhöhte Reinigung von Türfallen die erhoffte Sicherheit? Eigentlich schon, aber nur im Zusammenspiel mit hygienisch richtigem Verhalten der Menschen. Denn sonst ist eine gereinigte Türklinke innert Minuten wieder kontaminiert. Deshalb findet hier gerade die enge Absprache zwischen Dienstleister und Besteller statt, um alle Massnahmen zur bestmöglichen Hygiene gut aufeinander abstimmen zu können.
Positiv ist zu vermerken, dass sich Unternehmen sogar mit Mitbewerbern koordinieren. Das geht so weit, dass man sich mit Personal aushilft, um die wichtigsten Leistungen aufrechtzuerhalten.
Wie sieht die Situation für Kleinstunternehmen mit weniger als zehn Mitarbeitenden aus?
Für ein Kleinstunternehmen stellt sich rasch die Frage, ob der Betrieb ganz geschlossen werden muss, was absolut fatal wäre. Deshalb kann bei einer Ansteckung von einem Mitarbeiter kaum vorsorglich die ganze Belegschaft in Quarantäne geschickt werden. Hier sucht man den Weg, alle Ansteckungsmöglichkeiten strikt vermeiden zu können. Zudem ist es wichtig, mit den Hauptkunden sehr früh abzuklären, welche Leistungen diese dringend benötigen und was eher in die Zukunft verlegt werden kann.
Etwas anders sieht wohl die Situation bei den kritischen Infrastrukturen aus. Ihre Dienstleistungen sind zentral, damit Wirtschaft und Gesellschaft weiter funktionieren.
Der öffentliche Verkehr beispielsweise gehört zu den kritischen Infrastrukturen. Er hat eine Pflicht, Personen zu transportieren, auch im Pandemiefall. Doch wie weit geht diese Pflicht? Denn wenn dieser Arbeitgeber alle Chauffeure genügend ausrüstet respektive schützt, geht das schnell in die Hunderttausenden von Franken – nur für Hygienemasken. Da kommen sehr rasch die Kosten-Nutzen-Fragen ins Spiel, sofern andere Schutzmassnahmen ebenso wirkungsvoll sein könnten. Deshalb wurde beispielsweise der Schutz des Fahrpersonals organisatorisch gelöst, indem die vordersten Türen geschlossen bleiben und der direkte Kontakt zu den Fahrgästen unterbrochen ist.
Auch die Energieversorger gehören zu den kritischen Infrastrukturen und müssen in Krisensituationen schnell reagieren. Wenn ganz viele Leute Home-Office machen, so verlagert sich eventuell der Stromverbrauch. Das muss man bewältigen können. Einen Stromausfall kann sich der Energielieferant in diesem Fall nicht leisten. Zu sagen ist, dass Betriebe der kritischen Infrastrukturen schon länger recht gut auf Ernstfallszenarien vorbereitet sind.
Der Bund empfiehlt das Werk «Pandemieplan: Handbuch für die betriebliche Vorbereitung». Genügen diese Informationen für ein KMU?
Es ist eine sehr gute Grundlage. Im Handbuch sind die richtigen Fragestellungen, mit der sich jede Organisation befassen muss. Wichtig ist, dass die Unternehmen aber weiter blicken: «Wir sind als Firma im Pandemiefall abhängig von zahlreichen anderen Partnern. Was heisst das konkret, was müssen wir vom Businesspartner zusätzlich wissen, damit wir weiterhin funktionieren können, mindestens teilweise?»
Braucht es in Zeiten von Coronavirus ein Pandemieteam im KMU oder soll der normale Krisenstab diese Aufgabe übernehmen?
Das nehme ich sehr unterschiedlich war. Es gibt Firmen, die speziell einen Pandemiestab eingesetzt haben. Denn primär geht es darum, wie eingangs erwähnt, Leistungen aufrechtzuerhalten: Die Menschen müssen so geschützt werden, dass sie diese Leistungen erbringen können. Und vielfach wurde der Krisenstab aktiviert. Denn die effektiven Probleme liegen im Fortbestand der Unternehmung, der wegen der unterbrochenen Leistungen nicht mehr gesichert ist. Deshalb ist eine spezielle Krisenorganisation angebracht.
Ich plädiere für ein Kernteam, das ein Krisen- oder Pandemieteam bildet. Dieses ist bestückt mit Leuten der drei oder vier wichtigsten Funktionen im Betrieb. Je nach Organisation sind das Leitung Hauptbusiness, COO, HR, Legal & Compliance, IT etc. Und je nach Ernstfall – Pandemie, Brand, Naturkatastrophe, Skandal usw. – wird das Kernteam mit weiteren Leuten bestückt.
Das Kernteam sollte sich blind verstehen. Der CEO und der Verwaltungsrat sind eher nicht in diesem Team, sie haben jedoch einen guten Draht zu diesem und bleiben auch verantwortlich für strategisch wichtige Entscheide, die gefällt werden müssen. Der CEO muss gerade in schwierigen Zeiten das Unternehmen führen und beruhigend auf die Belegschaft und Kunden wirken können. Dazu braucht er Zeit, die er nicht hätte, wäre er zu stark im Krisenstab eingebunden. Der Krisenstab hingegen leitet die Koordination aller Massnahmen. So kann operative Hektik am besten vermieden werden. Klar, je kleiner das KMU, desto mehr ist der CEO auch mit Arbeiten des Krisenstabs beschäftigt, der Grundsatz sollte aber immer eingehalten werden können. Denn in einer Krisensituation muss koordiniert vorgegangen und kommuniziert werden, damit Kunden und Mitarbeiter genau wissen, was Sache ist.
Raten Sie dem einen oder anderen Unternehmen zu Kurzarbeit? Wann ist dies angesagt?
Wer mit redundanten Teams arbeitet, der überlegt sich, wer, wann und wo im Unternehmen tätig sein muss. Oder anders formuliert: Was bedeutet die Ausnahmesituation bezüglich Wertschöpfung, Mensch, Technik, Organisation und Liquidität – unter diesem Aspekt muss die individuelle Situation, auch bezüglich Kurzarbeit, erörtert werden.
Wer im Tourismusgewerbe tätig ist und im Pandemiefall keine Kunden mehr hat, für den ist der Fall klar. Da ist jede investierte Stunde meist herausgeworfenes Geld. Wir beraten auch ein solches Unternehmen, das jedoch sein Personal an ein Drittunternehmen vermieten kann, das dringend Leute benötigt. Dadurch kann die Firma ihren Betrieb auf einem Minimum aufrechterhalten. Das ist in diesem Fall besser als Kurzarbeit oder gar als die Bilanz zu hinterlegen.
Zu welchem Zeitpunkt soll im Krisenfall wie und was kommuniziert werden?
Wir hatten und haben derzeit viele solche Diskussionen. Es braucht seitens der Unternehmung eine Guideline, wie und was kommuniziert wird. Intern umsetzen müssen dies letztlich die Führungskräfte. In der Guideline sollte Offenheit als Grundsatz gelten, denn etwas zu verheimlichen bringt nichts, da es früher oder später auffliegt. Und dann ist die Glaubwürdigkeit dahin, intern wie extern! Aber das heisst nicht, dass Namen von Infizierten offen genannt werden sollten (Persönlichkeitsschutz beachten). Es liegt in der Verantwortung der Führungspersonen, diesen heiklen Punkt zu beachten. Denn für die Neuorganisation von Teams wegen einer Erkrankung muss der Namen in einem begrenzten Rahmen bekannt sein.
Wie wird kommuniziert, wenn die Produktion demnächst eingestellt werden muss?
Eine allgemeine Guideline gibt es dafür nicht, denn die Situationen sind individuell. Aber es hilft schon viel, wenn ich weiss, was meine Businesspartner von mir erwarten. Im derzeitigen Fall ist es eine Gratwanderung: Wir möchten, dass die Kunden nicht abspringen. Also muss ein Mitarbeiter gezielt mit ihnen Kontakt aufnehmen und die Lage besprechen, wie gegenseitig ein Lieferausfall überbrückt werden kann. Gemäss Erfahrung fährt man gut, wenn rechtzeitig das Gespräch gesucht wird. Das wird geschätzt. Jede Krisensituation sollte partnerschaftlich angepackt werden, das führt meistens zu guten neuen Lösungen, auf die man alleine eventuell nicht gekommen wäre.
Versetzen wir uns in die Lage nach dem Coronavirus. Was sollten KMU daraus lernen?
Wie gesagt, wer seine verschiedenen Ansprechpartner gut kennt und insbesondere weiss, was diese erwarten, der meistert den Krisenfall besser. Denn letztlich ist die Reputation fürs Überleben einer Firma ein wichtiges Gut – sie gehört zum Business Continuity Management.
Nach der Pandemie ist vor der Krise: Ob gut oder weniger gut aufgestellt, es gilt, für nach der Krise eine Pendenzenliste aufzuarbeiten. Wer analysiert, findet heraus, wo im Ernstfall Probleme in der Organisation, bei den Ressourcen (Mensch und Material) oder mit Kunden und so weiter aufgetaucht sind. Daraus kann man Massnahmen ableiten, um im nächsten Fall besser dazustehen. Wichtig ist und bleibt im Ernstfall auch der KKK-Grundsatz – «in der Krise Köpfe kennen».
Lässt sich sagen, wo der Bund aus Ihrer Sicht bis heute zu wenig getan oder gar versagt hat.
Der Bund hat sich schon seit Jahrzehnten auf eine solche Krise vorbereitet. Er hat einen Pandemieplan, Ressourcenplanung usw. Aber klar, weil lange nichts passiert ist, hat man den Rotstift angesetzt, Projekte wurden auf Eis gelegt. Das rächt sich jetzt da und dort. Wir sind ein föderalistischer Staat und der Bund kann den Unternehmen nur sehr bedingt vorschreiben, wie sie sich auf einen Krisenfall vorzubereiten haben. Es gibt Firmenchefs, die ihr Unternehmen gut auf Ausnahmesituationen vorbereiten, und andere sagen: «Wir wirtschaften im Hier und Jetzt.» Es sind unterschiedliche Verständnisse, wie man führt und mit Verantwortung umgeht. Beides muss in unserem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem Platz haben.