Migränefreundliche Arbeitsplätze schaffen
Migräne ist mehr als nur Kopfschmerz – für Millionen von Menschen in der Schweiz bedeutet sie wiederkehrende, oft lähmende Attacken, die den Alltag und die berufliche Leistungsfähigkeit stark beeinträchtigen. Mit der Initiative migränefreundlicher Arbeitsplatz bietet die Schweizerische Kopfwehgesellschaft Unternehmen konkrete Ansätze, um Betroffene zu unterstützen und Stigmatisierung abzubauen.
Neurologische und psychische Erkrankungen kommen bei über 30 % der Bevölkerung in Europa vor und stellen ein dringendes gesundheitliches Problem dar. Die «Swiss Brain Health Plan» Initiative wurde daher kürzlich ins Leben gerufen, um sich dieser Herausforderung anzunehmen und gezielte Massnahmen für bessere Hirngesundheit der Schweizer Bevölkerung zu entwickeln 1. Sie wird auch von politischer Ebene unterstützt.
Eine Million Menschen betroffen
Migräne ist eine der Hauptursachen für krankheitsbedingte Einschränkungen in der Schweiz. Sie betrifft über eine Million SchweizerInnen, viele davon im berufstätigen Alter 2. Migräne ist gekennzeichnet durch wiederkehrende, starke Kopfschmerzattacken mit begleitender Übelkeit, Erbrechen, Licht- und Lärmempfindlichkeit und einem starken Rückzugsbedürfnis. Begleitend finden sich auch Konzentrationsstörungen, Müdigkeit und Antriebsprobleme, die zusätzlich die Leistungsfähigkeit reduzieren. Häufig werden Attacken durch äussere Umweltreize wie starkes Licht, Lärm oder Hitze, oder innere Umstände wie Stress, hormonelle Schwankungen oder Schlafstörungen ausgelöst oder verschlimmert. Die Attacken können Stunden bis Tage dauern. In einigen Fällen gehen ihnen vorübergehende neurologische Symptome wie Sehstörungen voraus, was als «Aura» bezeichnet wird. Ein Fortsetzen der beruflichen oder Alltagsaktivitäten ist während einer Migräneattacke in der Regel nicht möglich. 3
Schätzungen gehen davon aus, dass ca. 15 % der arbeitenden Bevölkerung an Migräne leidet. 4 Viele Betroffene sprechen nicht offen über ihre Erkrankung, um einer Stigmatisierung als «arbeitsfaul» oder «zu wenig belastbar» zu entgehen. Häufig führt der Mangel an Verständnis zu Karriere-Einbrüchen oder Wechsel der Arbeitsstelle. Das ist umso bedauerlicher, weil durch offenen Umgang mit dieser Erkrankung, Akzeptanz und gezielte Massnahmen im Arbeitsumfeld eine Entlastung der Betroffenen erreicht werden kann. Auch für die Betriebe ist dies von Vorteil. 5
Starke Stigmatisierung
Präsentismus, also die eingeschränkte Arbeitsleistung durch Migräne ohne tatsächlichen Arbeitsausfall, macht fast 90 % des migränebedingten Produktivitätsverlusts einer Firma aus, mehr als Absentismus 6. Präsentismus, also reduzierte Arbeitsleistung durch eine Erkrankung, ist jedoch schwierig zu messen und bleibt im Arbeitsumfeld häufig unbemerkt. Im japanischen Fujitsu-Kopfschmerzprojekt wurden mehrere Tausend Mitarbeitende einer grossen Firma zu eigenen Kopfschmerzen, ihrer Lebensqualität und ihrem Wissen zu Migräne befragt. E-Learning und Online-Beratungen wurden angeboten, um Wissen über Migräne zu vermitteln. Die Resultate der Studie unterstreichen die Häufigkeit von Migräne am Arbeitsplatz (bei 16.7 % der Befragten) und zeugen von starker Stigmatisierung, ungenügender medizinischer Betreuung und starker Belastung der Betroffenen. Erstaunlicherweise konnte allein durch die Informationsmassnahmen viel erreicht werden: 83 % der Befragten ohne Kopfschmerzen änderten ihre Einstellung zu der Erkrankung. Viele MitarbeiterInnen suchten danach erstmals Kopfschmerzexpertise. Die berechneten Ersparnisse pro MitarbeiterIn/Jahr betrugen US$ 4531 4. Auch in einer Schweizer Studie konnte gezeigt werden, dass eine monatliche Beratung von Mitarbeitenden mit Migräne die Einschränkungen – gemessen mit dem Migraine Disability Score (MIDAS) – reduzieren konnte und für die Firma einen Return of Investment von 4.9 brachte. 7
Diese Beispiele zeigen das Potenzial von gezielten Massnahmen zur Information und Edukation über Migräne am Arbeitsplatz. Weitere Möglichkeiten bestehen in der Anpassung des Arbeitsplatzes und Flexibilität der Arbeitsgestaltung durch die Arbeitgeber*innen. 8
Die Schweizerische Kopfwehgesellschaft (SKG) hat basierend auf Expertenwissen und Daten zu Migräne die Initiative «Migräne-freundlicher Arbeitsplatz» (Migraine Friendly Workspace) lanciert (www.headache.ch/migraene/migraine-friendly-workspace). Diese Initiative ist Teil des Swiss Brain Health Plans. Das Konzept des «Tripple e» basiert auf den drei Pfeilern Empowerment (Befähigung), Environment (Umgebung) und Engagement (Engagement). Prinzipiell harmoniert das Konzept gut mit dem Grundprinzip des betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM), um Betriebe in ihrem Angebot für bessere Gesundheit ihrer Erwerbstätigen zu unterstützen und ergänzt die im BGM bereits bekannte/etablierte «Friendly Workspace» Kampagne. Besonders ist aber, dass speziell auf die individuellen Bedürfnisse von Menschen mit Migräne eingegangen und grosser Wert auf das Bekenntnis zur Entstigmatisierung gelegt wird. Folgende Punkte machen einen migränefreundlichen Arbeitsplatz aus und sind Bestandteil der Kampagne:
Empowerment: Informationsmaterial wird seitens SKG zur Verfügung gestellt. Hierzu gehören neben Printmaterial auch Online-Seminare. Wir stellen Informationen zu den verfügbaren und empfohlenen Akutmedikamenten zusammen («Notfall-Set»); und bieten Informationen zu den nächsten Migräne-Experten und Anlaufstellen. ArbeitgeberInnen ermöglichen interessierten Mitarbeitenden die Teilnahme an Sportprogrammen oder selbst organisierten Aktivitäten zur Kopfschmerzprophylaxe.
Environment: Der Betrieb hat einen Rückzugsort, den Betroffene in der Attacke aufsuchen können. Idealerweise ist das ein Raum, der sich abdunkeln lässt und vor Geräuschen und Gerüchen geschützt ist. Alternativ kann eine Liege mit Licht- und Lärmabschirmung in einem ruhigen Bereich der Arbeitsstelle zur Verfügung gestellt werden. Migräne-Betroffene, die Trigger ihrer Attacken am Arbeitsplatz angeben, wie z.B. starker direkter Lichteinfall, werden hinsichtlich einer Anpassung ihres Arbeitsplatzes beraten. Zur Umgebung gehören auch die Kollegen: Verständnis und Flexibilität im gesamten Team ist die Voraussetzung einer migränefreundlichen Atmosphäre.
Engagement: Betriebe zeigen «Farbe» und bekennen sich zu ihrem Engagement als migränefreundlicher Arbeitsplatz. Sie werden auf der Webseite der SKG als solche ArbeitgeberInnen publiziert. Sie sind flexibel, Lösungen zu finden, damit ArbeitnehmerInnen mit Migräne eine erfüllte Karriere haben. Hierzu können Home-Office, Job-Rotationen, gezielte Beratungen oder flexible Arbeitszeiten gehören.
Momentan werden erste Betriebe hinsichtlich Beratung evaluiert. Das Ziel dieses Projekts ist, die ArbeitgeberInnen bestmöglich zu unterstützen und bei der Umsetzung konkreter Massnahmen am Arbeitsplatz mit den ExpertInnen der Arbeitsmedizin zusammenzuarbeiten. Die BGM-Beauftragten können hier einen wertvollen Beitrag leisten, um die Zufriedenheit, Produktivität und Gesundheit der ArbeitnehmerInnen zu verbessern.
Referenzen:
1 Bassetti, C. L. A. et al. The Swiss Brain Health Plan 2023-2033. Clinical and Translational Neuroscience 7 (2023). https://doi.org/ARTN 3810.3390/ctn7040038
2 Thakur, K. T. et al. in Mental, Neurological, and Substance Use Disorders: Disease Control Priorities, Third Edition (Volume 4) (eds V. Patel et al.) (2016).
3 Eigenbrodt, A. K. et al. Diagnosis and management of migraine in ten steps. Nat Rev Neurol 17, 501-514 (2021). https://doi.org/10.1038/s41582-021-00509-5
4 Sakai, F. et al. Diagnosis, knowledge, perception, and productivity impact of headache education and clinical evaluation program in the workplace at an information technology company of more than 70,000 employees. Cephalalgia 43, 3331024231165682 (2023). https://doi.org/10.1177/03331024231165682
5 Begasse de Dhaem, O. et al. Identification of work accommodations and interventions associated with work productivity in adults with migraine: A scoping review. Cephalalgia 41, 760-773 (2021). https://doi.org/10.1177/0333102420977852
6 Goetzel, R. Z. et al. Health, absence, disability, and presenteeism cost estimates of certain physical and mental health conditions affecting U.S. employers. J Occup Environ Med 46, 398-412 (2004). https://doi.org/10.1097/01.jom.0000121151.40413.bd
7 Schaetz, L. et al. Employee and Employer Benefits From a Migraine Management Program: Disease Outcomes and Cost Analysis. Headache 60, 1947-1960 (2020). https://doi.org/10.1111/head.13933
8 Begasse de Dhaem, O. & Sakai, F. Migraine in the workplace. eNeurologicalSci 27, 100408 (2022). https://doi.org/10.1016/j.ensci.2022.100408
Authors
Susanne Wegener, Klinik für Neurologie, Universitätsspital Zürich (USZ) und Universität Zürich (UZH)
Andreas R. Gantenbein, Klinik für Neurologie, Universitätsspital Zürich (USZ) und Universität Zürich (UZH). Neurorehabilitation, Zurzach Care, Bad Zurzach, Neurologie am Untertor, Bülach
Natalia Aepple, IMK AG Institut für Medizin und Kommunikation, Basel
Harald F. Grossmann, IMK AG Institut für Medizin und Kommunikation, Basel
Christoph J. Schankin, Neurologische Klinik, Inselspital, Universitätsspital Bern, Universität Bern, Bern
Andreas Kleinschmidt, Klinik für Neurologie, Universitätsspital Genf und Universität Genf