Berufliche Erschöpfung und Depersonalisierung

In den Kantonen Neuenburg und Jura wurde bei 361 Pflegenden eine Umfrage zur Lebensqualität an ihrem Arbeitsplatz durchgeführt. Die grosse Mehrheit der Befragten sieht sich in Gefahr, ein Burnout zu erleiden – ein alarmierendes Ergebnis, das Auswirkungen auf die Qualität der Pflege und die Sicherheit der Patientinnen und Patienten hat.

Berufliche Erschöpfung und Depersonalisierung
Bild: depositphotos

Wie nehmen Sie Ihre Arbeit wahr?» Diese Frage wurde Pflegefachfrauen und Pflegefachmännern in den Kantonen Neuenburg und Jura im November 2020 gestellt, inmitten der zweiten Coronawelle. Die Sektion Neuenburg/Jura des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) wollte mit einer Beobachtungsstudie in Erfahrung bringen, wie Pflegende ihren Beruf wahrnehmen und wie fordernd respektive erschöpfend er ist.

Für die Befragung wurde das Maslach Burnout Inventory (MBI) verwendet, das während zwei Wochen via berufliche und soziale Netzwerke an die Pflegenden herangetragen wurde. Nach der Datenerhebung wurden die verschiedenen zugrundeliegenden Scores berechnet und eine Unterscheidung vorgenommen zwischen dem Gefühl der beruflichen Erschöpfung, der Depersonalisierung und der Selbstverwirklichung.

Das Personal leidet

Während der zweiten Coronawelle schienen die Covidfälle in der Schweiz exponentiell zuzunehmen, mit durchschnittlich 500 neuen Fällen pro Tag am 7. Oktober 2020, die bis 7. November auf durchschnittlich 8600 Fälle pro Tag anstiegen waren. Am 1. November informierte die Presse über die Sättigung des Gesundheitssystems im Kanton Neuenburg. In der Westschweiz besonders betroffen waren die Altersheime. Mitglieder des SBK des Kantons Jura wandten sich an die Sektion und berichteten von ihrem Leiden am Arbeitsplatz. «Ich wurde erst kürzlich diplomiert, bin aber schon in der Phase eines beginnenden Burnouts, ich habe meinem Vorgesetzten die Kündigung überreicht, der sich aber weigerte, diese anzunehmen», erzählt eine junge Pflegefachfrau. Mehrere Berufsangehörige beschreiben eine erhebliche Überlastung im Arbeitsumfeld, eine beginnende Erschöpfung und die Furcht, dass diese Situation länger andauern könnte. Auch werden gewisse Entscheide infrage gestellt. «Ich verstehe nicht, weshalb die wöchentlichen Besprechungen abgeschafft wurden, ohne die Betroffenen zu fragen und die Möglichkeit von Videokonferenzen in Betracht zu ziehen», kritisiert eine Pflegefachfrau. «Die Funktion einer Pflegenden setzt voraus, dass man sich untereinander abspricht, zusammenarbeitet, sich mit Kolleginnen und Kollegen austauscht, ganz besonders in dieser Pandemiezeit», gibt eine andere zu bedenken.

Ungenügende Kapazitäten

Am meisten Sorgen bereiten die Kapazitäten in den Intensivpflegestationen – zum Nachteil der Altersheime, die darob fast vergessen zu gehen scheinen. Es geht aber nicht nur darum, die Bewohnerinnen und Bewohner zu schützen, sondern auch die Pflegenden. Die Gesundheitskrise trat in einem Umfeld auf, das von den Pflegenden ohnehin schon als schwierig eingeschätzt wurde. 2019 forderte der SBK nachdrücklich, die Pflegefachfrauen und -männer sollten in Bezug auf ihre Arbeitsbedingungen unterstützt werden, hervorgehoben wurde vor allem der Personalbestand. Die Unterstützung solle es den Pflegenden ermöglichen, länger im Beruf zu verweilen (46 ​% verlassen das Berufsumfeld vorzeitig). In diesem Zusammenhang hielt es die Sektion Neuenburg/Jura für angezeigt, der Wahrnehmung der Pflegenden Gewicht zu verleihen, indem Antworten gesucht wurden auf die folgenden Fragen: Wie nehmen die Pflegenden ihre Berufssituation in dieser speziellen Zeit wahr? Kann man das Risiko für berufliche Erschöpfung messen? Wie steht es um die Fähigkeit des Pflegnetzwerks, sich zu mobilisieren und Auskunft über diese Art von Problematik zu geben?

Arbeitsbedingungen und extremes Engagement

Die Lebensqualität am Arbeitsplatz wird folgendermassen definiert: «Die Bedingungen, unter denen die Angestellten ihre Arbeit ausüben, und ihre Möglichkeit, sich zum Inhalt dieser Bedingungen zu äussern und diese zu beeinflussen, bestimmen die Wahrnehmung der Lebensqualität am Arbeitsplatz, die sich aus diesen Bedingungen ergibt.» (Haute autorité de santé, Frankreich) Der Zusammenhang zwischen der Lebensqualität am Arbeitsplatz und der Pflegequalität muss nicht mehr speziell erwähnt werden, die internationale Literatur zum Thema belegt diesen Zusammenhang deutlich. Teamarbeit und Zusammenarbeit, Ausbildung, Arbeitsbelastung oder die gegenseitige Abhängigkeit zwischen den genannten Parametern sowie der Personalbestand und die Möglichkeit, in Übereinstimmung mit seinen Werten handeln zu können: Das alles sind Faktoren, welche einen Einfluss auf eine als «gut» empfundene Arbeit (Clot, Y.2010) haben. Das Pflegepersonal wird als gefährdet eingeschätzt aufgrund des extremen Engagements, das es an den Tag legt. Die Ausübung des Pflegeberufs ist allerdings undenkbar ohne die Dimension dieses ausgeprägten Einsatzes, die einen Grundpfeiler in der Pflege darstellt, wie Clémence Dallaire, Professorin für Pflegewissenschaft an der Universität Laval, hervorhebt (2008). Dieses Engagement kann sich jedoch in die falsche Richtung entwickeln, wenn die Kluft zwischen der Vorstellung vom Beruf und der Realität zu gross wird.

Faktoren, welche zur Erschöpfung führen können

In der gegenwärtigen Situation schenken die Berufsvertreterinnen und -vertreter dem Leiden im Beruf eine erhöhte Aufmerksamkeit. Eine Evaluation des Burnout-Risikos wird vom Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) nachdrücklich empfohlen, und zwar sowohl im Hinblick auf die damit verbundenen Folgen im persönlichen Bereich als auch für den Betrieb selbst. Die berufliche Erschöpfung ist zurückzuführen auf eine Beziehung zu einer Arbeit, die als schwierig, stressig und (oder) ermüdend angesehen wird, präzisiert die auf das Thema Stress am Arbeitsplatz spezialisierte amerikanische Psychologin Christina Maslach (2006). Es handelt sich um einen körperlichen, emotionalen und psychischen Erschöpfungszustand, der sich aus den grossen Erwartungen ergibt, verbunden mit einem chronischen Stress bei der Arbeit. Es gibt sechs Faktoren, welche das Auftreten einer Erschöpfung begünstigen (Leiter, M. & Maslach, C., 2008):

  • Arbeitsüberlastung
  • das Gefühl, keine Kontrolle zu haben
  • fehlende Anerkennung
  • Abbröckeln des Gemeinschaftssinns
  • Gefühl von Ungerechtigkeit und fehlender Anerkennung
  • Wertekonflikt und Inkongruenz mit Werten

Der Fragebogen von Maslach wurde ausgewählt, um die Wahrnehmung der Pflegenden in Bezug auf ihre berufliche Erschöpfung zu erheben. Der Test wird oft verwendet, er weist gewisse Grenzen auf (Langevin, V. et al., 2012), die berücksichtigt wurden. Die Fragestellungen sind in Form von Aussagen formuliert, die subjektive Elemente im Zusammenhang mit der Berufspraxis sichtbar machen.

Nachweisliches Burnoutrisiko

Die Beobachtungsstudie brachte ein alarmierendes Resultat zutage: 77 % (alle Kategorien zusammengenommen) schätzen die Selbstverwirklichung im Beruf als schwach ein. Das heisst: von 361 im November 2020 befragten Personen sind 254 burnoutgefährdet. Angesichts des Fortdauerns der Gesundheitskrise, zunehmender Ansteckungen mit einem Höhepunkt im Dezember, einer ständigen Überlastung der Spitäler und des Auftretens von Varianten, die das Gesundheitssystem an den Rand seiner Möglichkeiten brachte, dürfte sich der Gesundheitszustand der Pflegenden kaum verbessert haben. Die erhobenen Daten sind wertvoll im Hinblick auf präventive Massnahmen, die auszubauen oder einzuführen sind, um ein Abspringen der Pflegenden und eine noch ausgeprägtere Schwächung des Gesundheitssystems zu verhindern.

Es besteht dringender Handlungsbedarf

Es ist wichtig zu erwähnen, dass kein Bezug besteht zwischen der Tatsache, dass man einerseits mental und körperlich erschöpft ist und sich andererseits bei ­seiner Arbeit voll einsetzt. Das ist gleichzeitig ein Hinweis auf die Resilienz der Pflegenden, die wie angeboren oder sogar gottgegeben erscheint. Man muss sich aber die Frage stellen, wie hoch das Risiko ist, dass schlechte Gefühle chronisch werden. Es ist von daher sehr wichtig, das Engagement der Pflegenden zu erhalten und wertzuschätzen und gleichzeitig die Verletzlichkeiten des Berufsstands zu identifizieren und sich ihrer anzunehmen. Mit diesem Ziel vor Augen hat die SBK-Sektion Ne/Ju, in Übereinstimmung mit den Grundsätzen des SBK, folgende Empfehlungen verfasst:

  • die Pflegefachfrauen und -männer sollen die Möglichkeit haben, die Frage nach der Erschöpfung zu stellen, dafür soll anlässlich der jährlichen Personalgespräche Zeit reserviert werden, damit die Wahrnehmung der Pflegenden erfasst wird und sie die Gelegenheit haben, Ideen zur Verbesserung der Situation anzubringen;
  • der Austausch im klinischen Bereich soll gefördert werden;
  • die Prioritäten der einzelnen Abteilungen sollen neu definiert werden, nachgeordnete Aufgaben sollen nicht mehr ausgeführt werden müssen, damit Zeit bleibt, die wesentlichen Arbeiten zu Ende zu führen;
  • es soll eine Atmosphäre des Vertrauens und der Unterstützung geschaffen werden;
  • es soll Fachpersonal zur Verfügung stehen, das auf die Unterstützung von Pflegenden spezialisiert ist;
  • die Kompetenzen des Pflegepersonals sollen neu formuliert werden.

Die Sektion hat es sich zur Aufgabe gemacht, ihren Mitgliedern aufmerksam zuzuhören. Es ist für sie ausgesprochen wichtig, die weitere Entwicklung der Daten zu verfolgen, um ein offenes Ohr für die Bedürfnisse der Praxis haben zu können. Die Sektion plant deshalb eine Neuauflage der Befragung, unter Berücksichtigung der Entwicklung im pflegerischen Umfeld, um die Rolle des SBK als Ansprechpartner und Sprachrohr für den gesamten Berufsstand zu konsolidieren.

Quellen:

  • Anne Bramaud du Boucheron, Master in klinischen Pflegewissenschaften und diplomierte Pflegefachfrau
  • Marilyn Leuenberger, MScSI, Pflegefachfrau am CHUV Lausanne
  • Christine Perrin, Pflegefachfrau im Centre neuchâtelois de psychiatrie, Vorstandsmitglied der SBK-Sektion Ne/Ju
  • Anne Guyot, Pflegefachfrau und Generalsekretärin der SBK-Sektion Ne/Ju
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