Körperliche Belastungen am Arbeitsplatz

Rund 670'000 Mitarbeitende in der Schweiz leiden unter körperlichen Beeinträchtigungen und fehlen im Schnitt drei Tage im Jahr: ein hoher Kostenpunkt. Christian Müller, Leiter Ergonomie bei der Suva, erklärt im Interview mit SAFETY-PLUS, was die häufigsten Fehler beim Tragen von physischen Lasten sind. 

Christian Müller
Bild: zVg

Herr Müller, was ist Ihre Aufgabe bei der Suva?

Als Arbeitssicherheitsspezialist und Ergonomieexperte stehe ich im engen Austausch mit den Betrieben und berate sie in vielfältigen Problemstellungen in Zusammenhang mit der Verhütung von Berufsunfällen und -krankheiten. Unsere Ergonomen werden jeweils dann zu Rate gezogen, wenn es um schwere körperliche Belastungen geht, die zu schwerwiegenden Berufskrankheiten führen können. In den Betrieben überprüfen wir jeweils, ob Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz umgesetzt wird.

Hat der Bereich Ergonomie bei der Suva in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen?

Der Bereich Ergonomie existiert bei der Suva schon seit 25 Jahren. In den vergangenen Jahren registrierten wir jedoch einen Anstieg der Versicherungskosten im Bereich der Ergonomie, worauf das Thema zuletzt etwas mehr in den Fokus unserer Präventionsarbeit gerückt ist.

Mit welchen physischen Problemen haben die meisten Ausfälle in den Betrieben zu tun?

Ein Drittel der Ausfalltage haben mit Beschwerden am Bewegungsapparat zu tun. Häufig sind Berufsgruppen wie Heimlieferdienste, das Ausbaugewerbe oder das Pflegepersonal betroffen. Wir haben aber auch andere Branchen mit Risikofaktoren wie stark repetitive Tätigkeiten, beispielsweise im Gemüsebau.

Welche Gefährdungen treten in der Getränkelogistik auf, bei der die Suva ebenfalls einen Schwerpunkt setzt?

Bei der Lieferung von Getränken, sei es bei der Heimlieferung oder der Anlieferung in die Gastronomie, ist die Belastung besonders gross. Mit den Sackkarren werden tagsüber Hunderte von 25-Kilo-Harassen transportiert. Man stelle sich beispielsweise nur schon die Stadt Bern mit ihren vielen engen Wendeltreppen vor. Auch das Ausbaugewerbe, beispielsweise bei Arbeiten an Fenstern und Böden, verzeichnet sehr hohe körperliche Belastungen durch Lastentransport. Die typischen körperlichen Belastungen durch Zwangshaltungen und repetitive Tätigkeiten beobachtet man dagegen eher im Industriebereich.

Warum steht nicht das Baugewerbe an erster Stelle?

Für den Lastentransport auf der Baustelle existiert bereits ein Präventionsprojekt namens «Optibau». Dieses Prinzip wurde 2015 erarbeitet und wird dieses Jahr wieder vermehrt in den Fokus rücken. Aktuell sehen wir sehr hohe Risiken für schwere körperliche Belastungen vor allem in Branchen, in denen Stückgut an unterschiedlichste Orte transportiert wird. Nach dieser Präventionskampagne wollen wir auch andere Branchen ansprechen, beispielsweise Unternehmen, die im Paketlieferdienst tätig sind.

Was sind branchenübergreifend die häufigsten Fehler beim Tragen von physischen Lasten?

Ein Hauptfehler ist das Nichthinterfragen, ob man eine Last überhaupt tragen soll. Hier gilt es, immer wieder mit wirksamen Massnahmen anzusetzen. Geht es darum, Lasten zu transportieren, verfügen Personen, die beruflich mit dem Heben und Tragen von Lasten zu tun haben, in der Regel über eine gute Technik und auch entsprechende Entlastungshilfsmittel. Anderseits stellen wir bei ungeübten Personen oft fest, dass diese oft zu tief in die Knie gehen, weil sie einen «geraden Rücken» mit einem «aufrechten Rücken» verwechseln. Ein gerader Rücken bedeutet jedoch nicht, dass man sich nicht mehr nach vorne neigen darf. Wird mit aufrechtem Rücken gehoben, führt dies zu sehr tiefen Hockepositionen und erhöhten Belastungen der Knie. Ausserdem ist vielen oft nicht bewusst, dass man eine Last wie eine Harasse beispielsweise über eine Ecke näher an sich heranziehen kann, um die Gewichtslast – aus der Nähe – über den ganzen Körper verteilen zu können.

Bei den maximalen Lasten gibt es verschiedene Richt- und Grenzwerte. Diese werden häufig falsch interpretiert. Warum?

Die 7 und 12 kg gelten als Richtwerte von häufig zu bewegenden Lasten bei Frauen respektive Männern. Die 15 kg für Frauen und 25 kg für Männer sind Richtwerte für gelegentliches Handhaben von Lasten. «Häufig» bedeutet: vier Mal pro Stunde. Werden die Richtwerte überschritten, muss ein Betrieb die Gefährdungsermittlungen, z.B. anhand unserer Checklisten, vornehmen. Sind Gefährdungen vorhanden, muss der Betrieb entsprechende Massnahmen treffen. Neben der eigentlichen Last spielen die Häufigkeit der Lastenhandhabung, die Ausführungsbedingungen und die Paustengestaltung eine entscheidende Rolle.

In dem Präventionsmodul «Lasten clever anpacken» wird auch die Beinarbeit thematisiert. Inwieweit kann die Beinarbeit beim Heben und Transportieren entlasten?

Ein gerader Rücken bedeutet nicht zwingend einen aufrechten Oberkörper. Die kräftigsten Muskeln haben wir im Gesäss und in den Oberschenkeln. Wenn wir beim Tragen von Lasten diese mit geradem Rücken nahe zu uns nehmen und mit der Kraft aus den Beinen anheben, nutzen wir diese Kräfte optimal. Durch die anatomischen Eigenschaften des Menschen kann die Beinmuskulatur, aber auch die Stützmuskulatur des Oberkörpers bei geradem Rücken optimal arbeiten. Mit einem runden Rücken werden einige dieser Muskelgruppen «ausgeschaltet».

Repetitives Heben kleinerer Gegenstände ist ebenfalls ein häufiges Problem, aus welchem Fehlhaltungen entstehen. Wie kann man diesem Problem entgegenwirken?

Die Repetitivität ist unabhängig von der Last ein Risikofaktor für körperliche Beschwerden. Bei eher leichten Gegenständen ist es sinnvoll, die Beweglichkeit des Rückens optimal zu nutzen. Wenn man die Arbeitstechnik optimieren will, sollte dies im Betrieb mit den konkreten Beispielen und Mitteln aus dem Arbeitsalltag erfolgen. Dazu bieten sich verschiedene Möglichkeiten, beispielsweise indem man sich aufzeichnet oder darauf achtet, wie andere Mitarbeitende dieselben Tätigkeiten verrichten. Haben sich bereits schlechte Routinen eingeschlichen, beansprucht eine Verhaltensänderung sehr viel Zeit und Aufwand. Bei neuen Hilfsmitteln wird oft derselbe Fehler begangen. So wird vielleicht ein neues Hilfsmittel wie ein Scherenhubtisch eingeführt und den Mitarbeitenden gesagt, man arbeite nun mit diesem Werkzeug. Man darf nicht unterschätzen, wie viel Zeit es braucht, um Mitarbeitende auch mit neuen Hilfsmitteln zu schulen. Der Misserfolg der Einführung eines «Treppensteigers» ist ein klassisches Beispiel. So gab es Unternehmen, die einige dieser Hilfsmittel angeschafft haben, die dann nur in der Ecke herumgestanden sind. Als wir dann aber in den Betrieben vorbeigingen und die Mitarbeitenden geschult haben, waren die Mitarbeitenden überaus zufrieden und wollten das Hilfsmittel nicht mehr hergeben.

Wenn Mitarbeitende bereits von gewissen MSE-Erkrankungen betroffen sind: Wie geht man als Betrieb mit diesen Mitarbeitenden um?

Beschwerden können unterschiedliche Ursachen haben. Neben den beruflichen Belastungen gibt es auch viele Risikofaktoren aus dem Privatleben. Wenn mehrere Mitarbeitende dieselben Beschwerden aufweisen, zeigt sich, wo ein Betrieb ein Problem hat und entsprechende Massnahmen definiert werden müssen. Risiken für körperliche Belastungen gehören ins Gefährdungsportfolio. So können Massnahmen präventiv getroffen und Beschwerden vermieden werden. Jemand, der schon Beschwerden hat, kann unter Umständen nicht mit seiner verminderten Belastbarkeit weiterarbeiten.

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