«Ich glaube nicht, dass ein Silicon Valley in Europa möglich wäre»

80 Prozent der die Welt beherrschenden Internetunternehmen kommen aus einem kleinen Tal in Kalifornien, Silicon Valley. Diese Firmen sind Herrscher über Plattformen, die alles tun, was machbar und für sie richtig ist. Dabei ist nicht zu unterschätzen, wie tief sie ins Wesen unserer Gesellschaft eingreifen.

«Wenn wir von einer digitalen Gesellschaft reden, ist das die einzige Gesellschaft, die es in Zukunft geben wird.»

Sascha Lobo ist ein scharfsinniger und zuweilen auch scharfzüngiger Beobachter der digitalen Welt. Wöchentlich veröffentlicht er in der Kolumne «S.P.O.N. – Die Mensch-Maschine» auf Spiegel Online. Dort äussert er sich regelmässig über den Segen oder Fluch des Internets.

Wann ist für Sie das Internet ein Segen?

Das habe ich in meinem Buch deutlich gemacht: Das Internet ist zu allen Zeiten zugleich Segen und Fluch. Und wir als Gesellschaft haben die Aufgabe, jene Teile, die den Fluch ausmachen, zuerst zu identifizieren, was gar nicht einfach ist, und dann in Richtung «Segen» schubsen. Man hat also als Gesellschaft – die Kultur, die Bürger, die Wirtschaft – die Aufgabe, den Segen-Anteil aktiv zu erhöhen. Der Fluch-Anteil kommt erfahrungsgemäss schnell genug auf uns zu.

Wenn ich Sie richtig verstehe: Dann war vieles, was nun Segen ist, zunächst ein Fluch? Oder geht auch die andere Richtung?

Man kann, wie bei der Henne und dem Ei, nicht sagen, dass irgendeine Technologie ganz am Anfang entweder Fluch oder Segen war. Ausgenommen vielleicht die Atombombe; da ist man sich einig, dass sie – vorsichtig ausgedrückt – kaum segensreiche Elemente hat. Tatsächlich ist es so: In wessen Hände gerät die Technologie? Was sind die Ziele, die man damit verfolgt? Und gerade bei diesen «Über-Technologien» wie Buchdruck, Radio und Fernsehen, bei der Medienherstellung insgesamt, war es auch beim Internet: Sie waren von Anfang an aufgeladen mit den grössten Hoffnungen. Es gibt eine Reihe von Zitaten, etwa: «Das Maschinengewehr wird den ewigen Frieden bringen». «Die Eisenbahn wird dafür sorgen, dass die Menschen sich verständigen und nie mehr Krieg miteinander führen» – Worte von ernst zu nehmenden Menschen. Und jedes Mal war‘s falsch. Ich sehe keinen Grund, weshalb es beim Internet nicht genau so sein sollte. Es kommt Mal darauf an: Mit welcher Absicht wird es verwendet, von wem und wie. Ob dies dann am Ende Segen oder Fluch wird, haben wir selbst in der Hand.

Und Beispiele gibt es ja inzwischen genügend, wo das Internet eher zum Fluch geworden ist, etwa im Zusammenhang mit der NSA-Affäre oder Blogs von Gruppierungen mit extremen Ansichten. Nun sprechen wir bereits von Web 2.0. Was folgt als Nächstes?

Web 2.0 war der Claim einer Konferenz im Jahr 2004. Da entstand dieser Begriff. Dann haben wir dazwischen «Social Media» gehabt und mittlerweile eine ganze Flut von Begriffen wie «Internet der Dinge», «Big Data» oder «Business Intelligence» und «Cloud Computing». Es gibt also wahnsinnig viel, was auf uns zukommt. Ich glaube, dass die nächste Zeit die Zeit der Datenströme werden wird. Ich glaube, dass sich die ganze Wirtschaft transformiert durch die Effekte des Internets und das habe ich «Plattform-Kapitalismus» genannt. Das, was man bisher als kleines Teil von Web 2.0 gesehen hat, bezieht sich nun auf die gesamte Wirtschaftswelt. Die Macht von Plattformen ist für mich heute eine so grosse wie die, die in den 1980er- und 1990-Jahren der Globalisierung unterstellt wurde. Was ja letztlich auch eingetroffen ist.

Plattform-Kapitalismus impliziert wohl wie alle «Ismen» eine Kritik. Welche?

Alle «Ismen» müssen kritisiert werden. Ich verstehe Kritik aber immer konstruktiv. Insofern ist Plattform-Kapitalismus per se nicht etwas Negatives. Im Gegenteil. Wir steuern eben auf die Ära des Plattform-Kapitalismus zu. Die Plattformen beherrschen das Internet. Und sie gehorchen bestimmten Regeln, die ich dabei bin, herauszufinden. Davon wird mein neues Buch handeln. Klassische Plattformen sind z.B. Google oder Facebook. Was haben sie gemeinsam? Zum Beispiel, dass sie dazu neigen, monopolartige Strukturen zu entwickeln. Facebook ist die Plattform für soziale Beziehungen im Netz. Und wann immer irgendwo ein Konkurrent auftaucht, wird er gleich für Milliarden-Beträge weggekauft. Was sehr clever ist. Für mich sind Plattformen – deshalb ist es so wichtig, dass sie eine eigene Wirtschaftsform hervorbringen – eine Mischung aus Betriebssystem eines Marktes und Marketplace of Speed. Was davon überwiegt, wird von Branche zu Branche unterschiedlich sein.

Wer sind die Gewinner, wer die Verlierer im Plattform-Kapitalismus?

Das Streben danach, zu den Gewinnern und nicht zu den Verlierern zu gehören. Darin besteht ja das Wesen des Wettbewerbs, und das finde ich völlig legitim. Nur muss man natürlich gucken, dass darunter nicht Unbeteiligte leiden und dass soziale, rechtsstaatliche, menschenrechtliche Standards, die wir uns hart erkämpft haben, nicht über Bord geworfen werden. Zum Zweiten braucht man auch eine gewisse regionale Verankerung. Das bedeutet: Ich halte es jetzt nicht für besonders grossartig, dass 80 Prozent der die Welt beherrschenden Internetunternehmen aus einem kleinen Tal in Kalifornien kommen. Das ist nicht ganz zu Unrecht so, denn deren Dienstleistungen sind um Längen besser, als die, die aus Europa kommen. Ich glaube, Europa muss sich überlegen, wie sich die wirtschaftliche Transformation gestalten lässt, damit wir davon auch profitieren. Erst recht, weil das alles stark in die Kommunikation und in die Kultur eingreift.

Sie äussern sich immer mal wieder kritisch über die «Technikerkaste im Silicon Valley». Was sind denn Ihre Haupt-Kritikpunkte?

Ein Punkt ist der, dass die Silicon-Valley-Firmen eigentlich eine verdankenswerte Aufgabe erfüllen, nämlich alles möglich zu machen, was irgendwie am Markt sinnvoll erscheint. Meine Kritik besteht darin, dass ihnen der Filter dazu komplett fehlt. Es sitzen dort vor allem finanziell und technologisch mächtige Leute, Herrscher über Plattformen, die alles tun, was sie für richtig halten. Die Demokratie, welche die Gesellschaft eigentlich gestalten sollte, scheint noch nicht begriffen zu haben, wie tief hier in das Wesen einer Gesellschaft eingegriffen wird. Ich glaube also, dass diese Menschen, die da neue Dienstleistungen erbringen und uns zeigen, absolut ihre Berechtigung haben. Aber es fehlt ihnen ein Korrektiv. Im Moment scheint es sogar so, dass sie sehr aggressiv dagegen arbeiten, damit möglichst nie ein solches Korrektiv stattfindet. Das kritisiere ich, nicht die Existenz solcher Firmen. Ich freue mich, dass es so etwas wie Google gibt, die mit Abstand beste Suchmaschine. Aber auf der anderen Seite wird in gewissen Bereichen eine Kontrolle praktisch ausgeschlossen.

Hängt das nicht auch damit zusammen, dass in den USA eine andere, eine «anything goes»-Mentalität herrscht, nicht wie in Europa? Wäre eine Art Silicon Valley in Europa aufgrund der stärkeren Regulierungen überhaupt möglich?

Ich glaube nicht, dass ein Silicon Valley in Europa möglich wäre. Und es ist auch gut so. Ich halte es für Unfug, das anzustreben, nach dem Motto «Wir müssen auch ein Silicon Valley haben». Es ist deshalb Unfug, weil die Entstehung eines Silicon Valleys viel mit Kultur und Mentalität zu tun hat. Die kalifornische Mentalität kommt aus dem Hippietum mit seinem libertären Freiheitsgedanken. Das «Wir-können-alles-Tun» ist verbunden mit einer starken Technik-Gläubigkeit, also der Auffassung, dass alle Probleme mit irgendeiner technischen Lösung bewältigt werden können. Diese sehr erfolgreiche Ideologie ist denn auch das verbindende Element dieser Leute: Soziale, politische und wirtschaftliche Probleme – alles lässt sich mit Technologie lösen. In Europa ist das seit vielen Hundert Jahren nicht so, wie ich glaube. Hier ist man nicht überzeugt, Technologie könne alles lösen. Interessant ist: Umso technologischer ein Land in Europa ist, desto weniger sind seine Bewohner überzeugt, dass man mit Technologie alle Probleme lösen kann. Schweiz und Deutschland gehören, was ihre Ingenieurleistungen angeht, weltweit zu den führenden Nationen. In beiden Ländern ist aber eine gewisse Technologieskepsis vorhanden, auch wenn die besten Uhren aus der Schweiz und die besten Autos aus Deutschland stammen. Insofern sehe ich in Europa eine andere Herangehensweise, eine, die langsamer funktioniert, die aber – aus meiner Perspektive – notwendig ist und grösser gemacht werden muss. Man braucht eine Unterstützung von europäischen Digitaltechnologien. Ich halte nichts von «Techno-Nationalismus», das ist Unfug.

Kommen wir nochmals zurück auf den Begriff «Plattform-Kapitalismus». Es entstehen ja laufend Start-ups im Bereich Share Economy. Stecken wir da momentan in einer Pionierphase, und in welche Richtung wird sich das Ganze entwickeln, wenn ich da etwa an das Beispiel uber.com denke?

Uber ist ein Vorzeige-Start-up des Plattform-Kapitalismus, die es meisterhaft verstanden hat, die Plattform für sich aufzubauen. Uber versucht tatsächlich, das Betriebssystem des Transport-Systems zu werden. Die möchten, dass wirklich jeder Transport über Uber läuft. Das ist genau dieser Marketplace of Speed. Was das heisst, kann man an Uber perfekt sehen, nämlich, dass es durch die digitale Vernetzung und das mobile Internet extrem einfach wird, am Markt teilzunehmen. Bin ich früher mit dem Auto von A nach B gefahren, bin ich nur Auto gefahren. Heute kann ich durch Knopfdruck Transportdienstleister werden, nämlich über Uber. Ich fahre also von Bern nach Zürich und nehme jemanden mit. Ob der mir dafür dann 25 Franken bezahlt oder ein Glas seines selbstgemachten Honigs in die Hand drückt, ist gar nicht so wichtig. Eine Armada von Leuten ohne wirtschaftlichen Druck konkurriert nun mit den etablierten Unternehmern. Das kann zu einem dramatischen Preiszerfall führen oder zu einer Ausdifferenzierung der Geschäftsmodelle. Es kann aber auch dazu führen, dass man sich überlegen muss, was man tun kann, ausser protektionistisch zu reagieren: Wie kann ich den Markt entwickeln, dass er für wirkliches Unternehmertum interessant bleibt? Ich glaube, dass man sich dazu Gedanken machen muss. Globale Gedanken wie «alles verbieten» sind Unfug. Man kann Fortschritt nicht verhindern, das zeigt die Geschichte. Aber man muss versuchen, die Richtung des Fortschritts zu bestimmen. Das ist extrem schwierig.

Was passiert denn mit der analogen Welt? Hat sie überhaupt noch eine Zukunft oder sogar erst recht?

Ich glaube, dass die digitale und die nicht-digitale, dingliche Welt miteinander verschmelzen. Wir haben da verschiedene Entwicklungen, etwa Augmented Reality, also die digital angereicherte Realität, wo ab einem bestimmten Punkt nicht mehr klar ist, was ist digital und was genau nicht. Das passiert nicht nur über irgendwelche Brillen, die mir Informationen einblenden, sondern auch ganz konkret und handfest dadurch, dass ich mein Smartphone ständig bei mir trage, ergeben sich neue Effekte, wie beispielsweise das Licht, das angeht, wenn ich einen Raum betrete, weil mein Smartphone mit der Glühbirne kommuniziert. Vor zehn Jahren dachte man noch: «bekloppt». Aber heute ist es mit drin im Google Home-Paket. Und man kann sich fragen: Ist das nun digital oder noch dinglich? Das Licht geht da oben an, ist aber digital gesteuert. Wo das Digitale aufhört und das Analoge beginnt, lässt sich immer schwerer greifen. Ich glaube, dass irgendwann der Unterschied nur noch für Experten auszumachen ist. Und deswegen kann man sich der ganzen Entwicklung wohl nicht entziehen. Die Lehre daraus ist: Wir können nicht so tun, als wäre das Internet ein isolierter Ort, ein komisches Netzwerk aus isolierten Kabeln, das irgendwo unterirdisch stattfindet oder mit irgendwelchen Servern in Kalifornien verbunden ist. Nein, das Internet ist überall. Wenn wir von einer digitalen Gesellschaft reden, ist das die einzige Gesellschaft, die es in Zukunft geben wird. Und weil von Steuerdaten über Patientendaten bis hin zu Zahlungsvorgängen, bis hin zu fast allen Daten, die uns im Alltag begegnen, alle schon im Internet sind, kann man sich der digitalen Welt nicht mehr enthalten. Man ist Teil davon, ob man will oder nicht. Das heisst, wir müssen uns damit beschäftigen und die Entwicklung beeinflussen.

Sascha Lobo https://saschalobo.com/

Angst vor Algorithmen? Sascha Lobo über Digitalisierung und vermeintlich Böses

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